Foto: Ulrich Mokrusch inszeniert Henrik Ibsens "Peer Gynt" mit der der Bühnenmusik von Edvard Grieg. Die Welt als Wille und Vorstellung erlebt, die Hüllen seiner Persönlichkeit abgelegt - aber wo ist der Kern? Peer Gynt (Sebastian Zumpe) suchte sein Ich - und fand: nichts. © Heiko Sandelmann
Text:Jens Fischer, am 27. Dezember 2014
Nordischer Faust? Skandinavischer Don Juan? Ein Hans Guckindieluft ist dieser Bremerhavener Peer. Er weiß nicht wohin mit sich, tobt also hierhin, dorthin, will Kaiser werden, Mädchen verführen, superreich und Abenteuerheld sein. Aber kein Ziel ist nach dem Erreichen noch interessant. Jedem Aufbruch folgt schnell der nächste. Gleich ist nur die eine großspurig naive Jungsgeste beim Losstolzieren zu immer anderen Späßen, Betrügereien, Lastern. Peer breitet stets lässig schlenkernd die Arme aus, als möchte er signalisieren: Ey, mir kann keiner was.
Aber am Ende seines Lebens, in dem er immer er „selbst“ sein wollte, aber immer nur „sich selbst genug“ war, wird ihm klar, im Kern seiner kurzfristigen Lebensentwürfe ist nichts. Das Ich: eine Leerstelle. So hat es Ibsen 1867 in seinem kritisch bürgerlichen Stationendrama und philosophierenden Mysterienspiel verfügt.
Genau an dieser Erkenntnis erheben Inszenierungen normalerweise den Zeigefinger. Nicht so der regieführende Intendant des Stadttheaters, Ulrich Mokrusch. Kritik liegt ihm fern, er feiert vielmehr die energisch behaupteten Egos als kraftmeiernde Clownerie, will sie zur großen Lebenskomödie addieren, als Verführung zum Theater nutzen und dabei spartenübergreifend die Fähigkeiten seines Hauses beweisen. „Peer Gynt“ als Schauspiel mit Musik und Ballett, witzig und rührend, wie ein knallbuntes Weihnachtsmärchen, die Entstehungszeit soll durchschimmern, gleichzeitig Patina wegpoliert und zeitgemäß ernsthaft über Individualität diskutiert werden.
Dafür braucht es zwei Peers: Tobejungs, geschult in Kontaktimprovisation, aber zumeist solistisch unterwegs. Der eine, Schauspieler Sebastian Zumpe, kündet chronisch emphatisch, mit dem Übermut eines Augenblicksmenschen, von seinem fiebrigen Lebenshunger. Mehr nicht. Der andere, Tänzer Oleksandr Shyryayev, fügt mit seiner Körpersprache nicht weitere Persönlichkeitsaspekte, Facetten, Häutungen, Spaltungen der Gynt’schen Existenz oder Etappen ihrer Selbstverwirklichungsversuche dar, sondern klassische Ballettfiguren pittoresk in den Raum.
Die gesamte Compagnie des Choreographen Sergei Vanaev gewinnt kaum eigenständige Ausdruckskraft, mit der Szenen vertieft, erweitert, geöffnet werden könnten, ist meist nur bewegte Statisterie – ob nun Bauernhochzeit, trieb-trollige Schweinereien oder akrobatisch Showgirl-Sexyness getanzt wird.
Edvard Griegs Bühnenmusik, kunstvoll schlichte Miniaturen, helfen der Aufführung ebenfalls nicht weiter. Das Orchester schmeichelt sich unter der Leitung von Ido Arad zwar in romantisch verhangenen Tempi mit den Zwischenspielen ein, unterfüttert einige Szenen stimmungsmalerisch, kostet auch die vertonten Wetterklang-Effekte und andere Naturimpressionen lautstark aus, zieht aber musikdramatisch keine neuen Ebenen ein, bleibt hübsch sehnsüchtiger Schmuck: Klangstuck. Leider funkeln auch Regine Sturms Solveig-Lieder nicht überirdisch schön in ihrer Liebesgewissheit, sondern mit eher fahler Strahlkraft. Dafür weiß sie in den Schauspielparts zu überzeugen.
Mokrusch aber bekommt keinen Zugriff auf den Stoff. Die Dorfszenen zu Beginn kommen volkstümlich rustikal wie ein Ohnsorg-Schwank auf Hochdeutsch daher. Mit Blondhaarperücke, Baströckchen und großen Plastikbrüsten sind dann die drei verführerischen Sennerinnen noch irgendwie lustige Traumfrauklischees, aber in den Abgründen des Trollreiches geht’s nur noch harmlos putzig zu wie bei den sieben Zwergen. Und die dortige Prinzessin ist auch noch als erbarmungswürdig tuntende Conchita Wurst inszeniert.
Voll daneben der Auftritt Peers als Prophet: Ein nur für diesen Gag in dieser Szene aus dem Bühnenkeller hochgefahrenes Musikantentrio nimmt Griegs Motiv des Vorspiels mit der E-Gitarre auf und bastelt drumherum eine öde Rumpelrocknummer, zu der Zumpe, immer noch ausschließlich in der Siegerpose, den Popstar mimt, ohne eine entsprechende Singstimme zu haben. Dezent überzeugend nur die wenigen Schauspieldialog-Duelle. Auch die Soundtrackmaschine im Orchestergraben schweigt – wenn der Knopfgießer, Todesbote und Handlungsreisender in Sachen Seelenrecycling, fordernd auf den um seine Identität kämpfenden Peer trifft. Er endet nicht im Grab aus Lebenslüge, Schuld und Sühne, sondern kommt schweigend neben Solveig zur Ruhe. Geretteter Fantast oder gerichteter Hochstapler?
Er habe eine Perspektive verdient, meint Mokrusch. Das Stück hat sie in Bremerhaven nicht bekommen.