Foto: Henriette Schmidt (l.) und Julia Bartolome in "Heute bin ich blond" am Staatstheater Nürnberg © Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 15. Dezember 2014
Den Besucher der Nürnberger Kammerspiele empfängt auf der Bühne bei gedimmter Saalbeleuchtung eine bedrohliche Wand aus Rockkonzert-tauglichen Lautsprecher-Boxen. Heavy ist das Thema, das hinter dieser Kulisse auftauchen wird, allemal – eher fürs Gemüt als in den Ohren. Eine junge Frau, die man wohl „lebenslustig“ nennen darf, erfährt wie durch einen Blitz aus heiterem Himmel von ihrer Krebs-Erkrankung und muss den Hoffnungslauf durch die Radikalkur antreten. Auf die Fassungslosigkeit folgt die Trotzreaktion, denn den Verlust ihrer Haare, an dem sie für jedermann als Todeskandidatin erkennbar wird, bekämpft Sophie nicht mit diskret angepasster Perücke, sondern in mobilisiertem Selbstbewusstsein mit einer Wechsel-Orgie künstlichster Ersatzfrisuren. „Heute bin ich blond“ ist nur eine der Varianten.
Im Original war das ein autobiographischer Roman der jungen niederländischen Autorin Sophie van der Stap, den Marc Rothemund im Vorjahr mit einigen kinogerechten Eingriffen verfilmte, dessen Drehbuch wiederum zur Basis für die Theaterfassung des derzeit wohl pragmatischsten Adaptions-Dramatikers John von Düffel wurde. Er ist eine Art zufälliger Schwerpunkt-Autor der laufenden Nürnberger Saison, denn sein Antiken-Digest „Ödipus Stadt“ eröffnete im Oktober die Spielzeit im großen Haus – aber das ist eine andere Geschichte.
Regisseur Karsten Dahlem nimmt die Story, die nun auf eine Mittelpunkt-Figur und drei Partner beschränkt ist, als demonstrative Spielvorlage. Vier Akteure entern die Bühne, greifen nach Mikros und steigen ein ins Schicksal. Die beiden Männer (Christian Taubenheim und Julian Keck) sind Sidekicks mit Gitarrenbewaffnung, die knallharte Realität durch narkotisierende Wirkung von Sphärenklängen unterlaufen. Julia Bartolome als Freundin Annabel darf mehr, sie muss sich schwer machen in ihrer Komik, um als Gegengewicht die Groteske auf der Kippe zur Verzweiflung in Balance zu halten. Das kann sie bestens. Henriette Schmidt ist die souveräne Mittelpunkt-Figur, die Betroffene, die sich nicht in Betroffenheit verlieren und keinesfalls Mitleid erregen will. John von Düffels Textfassung macht das möglich, sie bleibt elastisch für jede Art von Interpretation, wahlweise mit heißem Herz oder kühlem Kopf.
Das Quartett und sein Regisseur (er widmet seine Inszenierung dem „besonderen Moment des Bewusstwerdens der eigenen Sterblichkeit und letztlich des Lebens“) jonglieren im abgesteckten Rahmen mit Versatzstücken aus Melodram, Komödie und Dokumentation. Patientin Sophie ist auch Schauspielerin Henriette Schmidt, wenn sie auf offener Bühne Haare und Augenbrauen unter Klebeband verschwinden lässt und taucht erst dann ganz ins Rollenspiel, wenn die Perückenwechsel mitten im Bann der Todesangst die Beschwörung von mehreren Alternativ-Leben suggerieren. Dass diese Tragik wahnsinnig komisch ist, der Depression eine Fratze geschnitten wird, hätte die Aufführung (gerade weil das die Schauspieler so genau zeigen) noch stärker ins Zentrum stellen sollen, wo das Solidar-Kotzen im Krankenzimmer mit den Grenzen des guten Geschmacks durchaus das Nervenzentrum der Geschichte berührt.
Doch die Regie hat den Drang ins Allgemeine, sie will immer wieder mehr als die individuelle Story und macht Doku mit Schuss. Da werden Details der Chemotherapie in bester Beipackzettel-Dramaturgie referiert (überhöht durch untergeschobenen Gitarrensound), wird für eingeblendete Straßen-Interviews das Thema per Restlaufzeit-Befragung ausgeweitet. Was würde man in Kenntnis des nahenden Todes tun? „Nimmer ärwern“, also: nicht mehr arbeiten, sagt eine fränkische Echthaar-Passantin und geht weiter. Etwas kontraproduktiv, was den Kern des Stückes/Filmes/Romans betrifft, der aus gutem Grund so sehr auf die Aktivität seiner Protagonistin setzt.
Die Kurve zum Finale schafft die geschickt arrangierte Inszenierung mit unheimlicher Leichtigkeit, denn es ging ja gut und ist im Theater sowieso nur Spiel. Alle Haare wieder, wenn Sophie das Klebeband unter der Perücke löst, und somit auch keine Frage mehr zur Nachhaltigkeit im strapazierten Überlebensmut. Das originale „Mädchen mit den neun Perücken“, die heute 31jährige Autorin, schreibt inzwischen Romane wie „Was, wenn es Liebe ist“. John von Düffel, übernehmen Sie!