Foto: Roger Vontobels Inszenierung in Bochum. Hauptmanns "Einsame Menschen" feiern Kindstaufe. Vorne rechts Jana Schulz als Käthe Vockerat. © Arno Declair
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 6. November 2014
Seinem Kind die elterliche Liebe zu bewahren, selbst wenn es ein großes Verbrechen begangen hat, gehört vermutlich zu den großen emotionalen Kraftakten. Wie umgekehrt auch die Verstoßung, die allerdings auf Vorbilder in der Bibel zurückgreifen kann. „Ich kenne dich nicht mehr“, schleudert Martha Vockerat (Katharina Linder) ihrem Sohn Johannes ins Gesicht. Und ihr Mann (Michael Schütz) sekundiert: „Wir sind zuende“. Es ist der Schlusspunkt, den diese christlich-liberalen Eltern nach einer Auseinandersetzung setzen, die alle Grenzen des familiären Miteinanders sprengt. Eine Schlacht, die man so in der alten Dramenscharteke „Einsame Menschen“ nicht erwartet hätte. Gerhart Hauptmanns Stück führt einen eigentlich simplen Konflikt vor. Der junge Wissenschaftler Johannes Vockerat lebt mit seiner Frau Käthe auf dem Land, das erste Kind ist da. Alles gut eigentlich. Doch dann taucht die Studentin Anna Mahr auf und Johannes versucht mit aller Macht aus seiner Ehe eine Menage à trois zu machen. Ein Konflikt um Individualismus, Familie, Verantwortung und privates Glück, den Regisseur Roger Vontobel größtmöglicher Öffentlichkeit aussetzt.
Die Bühne im Bochumer Schauspielhaus ist zur Arena umgebaut, in deren Mitte fünf Stühle auf der Drehscheibe stehen, die den ganzen Abend nicht zur Ruhe kommt. Ein Stutzflügel deutet einen bürgerlichen Salon an, doch hier wird die Familie ausgestellt und seziert. Vontobel fährt groß auf. Die Taufe des Kindes wird zur einträchtigen Familienfeier mit dem Pianisten Matthias Herrmann und dem Opernbariton Tomas Möwes. „Liebster Jesu wir sind hier“ und Reinhard Meys „Das Apfelbäumchen“ werden geschmettert. Diese joviale Gläubigkeit wirkt als familiäres Substrat und als hauchdünner Firnis zugleich – was Käthe, Johannes‘ Frau, durch ihr verstörtes Ausscheren schnell deutlich macht.
Überhaupt ist diese Dulderin, diese Unterwürfige, gespielt von Jana Schulz, das geheime Zentrum des Abends. Die tastende Körpersprache und der Auftritt in Wollsocken sprechen von einer verstörenden Selbstverleugnung, die in den depressiven Zusammenbruch führt. Wie ein vergessenes Menschenbündel liegt sie auf den Stühlen, um am Ende als Mutter mit umgeschnalltem Tragesack einfach und ruhig die Stühle zusammen zu räumen. Ihre Widersacherin Anna Mahr bleibt bei Therese Dörr dagegen eher schwach konturiert. Sie stürmt zwar im gelben Kleid, das in der grau-braunen zeitgenössische Kostümierung den einzigen Farbtupfer setzt, mit Inbrunst ins Familiensetting; läuft barfuß herum, brüllt „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“ lautstark mit. Viel knalliger Elan, der konterkariert wird durch die ständige Bitte um Zuneigung. Ihr Freiheitscredo mit Einsamkeitsängsten zu verbinden, erscheint allerdings etwas einfach. Ist es also letztlich nur der Elan, der sie für Johannes attraktiv macht? Der lebenspraktisch untaugliche Wissenschaftler will das Unmögliche: Selbstverwirklichung und Familie, Stadt und Land, Geld und Laisser-faire. Vor dem Hintergrund einer sich individualisierenden Gesellschaft und aufbrandender Ethikdebatten ein durchaus aktueller Konflikt. In Paul Herwegs Deutung des Johannes führt dieser Konflikt allerdings geradewegs in eine neurasthenische Hysterisierung. Er windet sich, keift, explodiert, ein hilfloser Trotzkopf, der alles will und zwar sofort. Seine Kleidung löst sich immer weiter auf, bis er sich brüllend in die Familienschlacht stürzt.
Das hat schon Strindbergsche Dimensionen, wie hier Mutter, Sohn, Anna Mahr und der befreundete Maler Braun (Felix Rech als schmarotzender Moralist) aufeinander losgehen. Hatten zuvor das psychologische Feintuning samt Akustik eher gelitten, so wird das 1890 entstandene Kammerspiel zum Schlachtgemälde und füllt nun auch die große Bühnendimension. Wenn Vontobel schließlich Käthes Mutterschaft über Johannes‘ Individualisierungsbegehren triumphieren lässt, und anders lässt sich das Bild kaum deuten, wirkt das schon wie ein ziemlich konservatives Rollback.