Foto: Xin Pen Wangs "Zauberberg" in Dortmund. Faschingsabend mit dem Corps du Ballet © Bettina Stöß (Stage Picture)
Text:Marieluise Jeitschko, am 6. November 2014
In Hans Castorps „Schneetraum“ fallen Buchstaben wie Schneeflocken vom Schnürboden, vereinen sich zu Worten und Sätzen als Graffiti auf einer Mauer. Namen von Körperteilen lassen sich entziffern und Sätze wie „Der Leib ist Krankheit und Wollust“. Er könnte als Motto über Xin Peng Wangs neuem Ballett nach Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ stehen.
Dramaturg Christian Baier hat Manns siebenteiligen, 750 Seiten starken, sprachgewaltigen Roman nach tanzbaren Motiven – jenseits der ausführlichen Beschreibungen und philosophischen Diskursen – durchforstet und ist dank theatralischen Gespürs fündig geworden. Aus 51 Roman-Kapiteln schrieb der Wiener ein nahezu perfektes Szenario in neun Szenen, die zwischen der Ankunft des 23-jährigen Hanseaten Hans Castorp im Tuberkulosesanatorium „Berghof“ in Davos und dem „Donnerschlag“, dem Ausbruch des 1. Weltkriegs sieben Jahre später, nicht strikt, doch keineswegs unlogisch Manns Chronologie folgen.
Die Personenauswahl ist exzellent. Allesamt sind Patienten. Schwerkranke, Sterbende und lebensscheue Hypochonder finden hier im gemeinsamen Zelebrieren ihrer „Heiligen Krankheit“ eine Heimat. Wie Aasgeier lauern Bergbauern mit riesigen, derben Holzschlitten, um die Leichen hinab ins Tal zu transportieren. Xin Peng Wang vereint sie alle zu einem makabren, lustvollen Totentanz. Nur die beiden „Zauberer“ dieser morbiden Bergwelt vermisst man – im Gegensatz zu dem Geißendörfer-Film von 1982: Hofrat Behrens, den geschäftstüchtigen, etwas schmierigen, sich jovial gebenden Chefchirurgen, und den diabolischen Psychiater und Hypnotiseur Dr. Krokowski.
Wangs Ballette profitieren stets von exquisiter Musik. So verblüffen die Dortmunder Philharmoniker unter Motonori Kobayashi diesmal mit Symphonischem und Kammermusik des hierzulande allenfalls durch diverse ausländische Einspielungen bekannten Esten Lepo Sumera (1950-2000). Die bizarr dissonante, minimalistische Klangstruktur seiner Sinfonien und der lyrische Charme seiner Klavier- und Violin-Kompositionen hebt Manns Geschichte ins Heute und entzieht sie so der latenten Gefahr von Pathos oder gar Biederkeit. Der aus dem Off geschmetterte Männerchor des von Mann neben vielen klassischen und romantischen Musikstücken zitierten Schubert-Liedes „Am Brunnen vor dem Tore“ ist in dieser Form ein sehr effektvoller Hinweis auf die subtile sprachliche Ironie, die in Manns Erzählung immer wieder aufblitzt.
Wangs Kompanie wird immer besser. Seine choreographische Handschrift wirkt auch dank der darstellerischen Ausdruckskraft der Solisten vielfältiger und natürlicher. Der hochgewachsene Dmitry Semionov porträtiert Castorp in zwei langen Soli mit fast zu viel Eleganz und leichter Melancholie. In dem langen Pas de deux einer sexuellen Vereinigung mit Clawdia – bei Mann nur ein gewagtes „Du“ beim Flirt am Faschingsabend – überzeugt er als klassischer Partner ebenso wie in kurzen Begegnungen mit der Russin, mit deren Darstellung Monica Fotescu-Uta der langen Reihe ihrer solistischen Auftritte ein neues Glanzlicht hinzufügt. Höhepunkt ist der Pas de Trois von Castorp, Clawdia und ihrem erfrischend handfesten Liebhabern Peppercorn (Andrei Morariu). Schade nur, dass die Tür, durch die die exaltierte „Diva“ den Speisesaal betritt, nicht gläsern klirrend ins Schloss fällt. Auf der Dortmunder Bühne ist sie wohl eher aus Pappe oder Sperrholz. Das schmälert den Effekt. Allerdings wetzt Monica Fotescu-Uta die Scharte sogleich aus. Mit rothaariger Flechtfrisur und im langen fließenden Kleid, das ihre schlanke Gestalt umschmeichelt, macht sie mit großer Aura auf sich aufmerksam.
Zwar versteht man nicht, worüber der humanistische Literat Settembrini (betont chaplinesk: Giuseppe Ragona) und der Jesuit Naphta (fast rührend: Arsen Azatyan) sich derart zerstreiten, dass es zum Duell kommt, in dem der totkranke Naphta sich selbst erschießt. Aber die Gestik und die langen Wege voneinander weg und aufeinander zu gehören zu den spannendsten Momenten des zweistündigen Abends. Während Jelena Ana Stupar (Nelly) undankbare Kicher-Auftritte charmant absolviert, stirbt Dann Wilkinson (Castorps Cousin Joachim Ziemßen), Mitglied des neu gegründeten Junior-Balletts NRW, sehr dramatisch. Das Corps de Ballet profiliert sich vor allem in der schönsten Szene, dem makaber-moribunden Faschingsball (Masken und Kostüme: Alexandra Schiess) und in der enthemmten Walpurgisnacht. Etwas kunstgewerblich dagegen kommt, wie teilweise auch die aufwendige Bühnengestaltung von Frank Fellmann, das Bodenballett der Leichen im Prolog über. Das Finale erinnert an Wangs Choreographie nach dem chinesischen Epos „Der Traum der Roten Kammer“: hier allerdings überlagern statt militärischer Aufmärsche zu Ehren Maos Projektionen kämpfender Soldaten bei Ausbruch des 1. Weltkriegs die Flucht der Sanatoriumsinsassen ins totbringende Flachland.