Foto: Jutta Czurdas "Voices" am Stadttheater Fürth © Thomas Langer
Text:Dieter Stoll, am 7. November 2014
Die Frauen aus der Vorstadt klammern sich in Trance an ihre Heimchen-Existenz. Platinblond im cremefarbenen Faltenrock wirken sie wie verwunschene Traumgestalten, die beim Streben nach Marilyn Monroe bei Doris Day hängen geblieben sind. Aber die Satire, die sich da auf den ersten Blick in Jutta Czurdas Tanztheater „Voices“ anzubahnen scheint, findet nicht statt. Es ist bitterernst, was dieses „Stück für sechs Frauen“ über die Fremdbestimmung durch innere Stimmen und äußere Zwänge zeigen will: Körper, die in der „gnadenlosen Optimierungsmaschinerie“ gefangen sind, sich mühsam Zugang zur kleinen Ur-Freiheit unter den Schichten von Konvention und Maske erkämpfen müssen. Dann werfen sie sich mit der rhythmisierten Kraft der Verzweiflung in rituelle Tänze, schütteln die Flüsterer-Bedrohung in aufbrausender Energie ab. Brüchige Momente der Emanzipation, die am Ende zum rührend hilflosen Kunst-Tableau führen, wenn alle fürs Gruppenbild der Rückenfreiheit drapiert und symbolschwer vom BH befreit sind.
Zunächst hat jede der Frauen einen eigenen Polstersessel als Sitz und Besitz. Vorsichtig stemmen sie sich hoch aus der genormten Apathie, suchen Halt und Haltung in unsicheren Synchronbewegungen. Ein kollektives Standard-Lächeln und das flüsternd gesungene Lied vom kühlen Grunde sind tastende Versuche, die Autorität übers eigene Gefühl zurückzugewinnen. Natürlich genügt das nicht, denn die zwischen Vision und Valium eingeklemmten Czurda-Frauen wollen sich „häuten wie ein Tier“, um die Empfindsamkeit neu zu justieren. Die Püppchen-Maskerade samt Sitzmöbel verschwindet, aus den traurigen Blondinenwitzen werden schwarze Hexen, aus der zaghaften Krankengymnastik explodiert rituelle Gruppendynamik voller zornig trampelnder Obsessionen. Wohin es führt, ob da Freiheit wuchert oder nur Illusion, wird die Aufführung nach 90 Minuten offen lassen. Zuvor hat sie in der als Rahmen bestens passenden Säulenhalle des Fürther Kulturforums aufgebäumte Frauen-Power vor Weltgeschichte simuliert: Während die Szene dem Aufstand der Weiblichkeit gehört, flimmert im Hintergrund auf voller Bühnen-Breite eine diffuse Bild-Dokumentation zwischen Schöpfung und Erschöpfung.
Jutta Czurda, die am Fürther Theater in den letzten Jahren beim „Brückenbau“-Projekt mit Amateuren die Generationen zur gemeinsamen Bewegung anstiftete, knüpft mit „Voices“ an den ruhenden Teil ihrer bemerkenswerten Karriere an. Sie hatte einst eine ästhetisch eigenwillige Tanztheater-Truppe gegründet, war bei Intendant Burkhard Mauer in Nürnberg damit untergekommen und ließ sich dann in Fürth erst in der freien Szene und dann bei Werner Müllers Stadttheater nieder. Dort suchte sie als Sängerin (Bayerischer Theaterpreis für einen Brecht-Abend) und Regisseurin neue Wege. Die Konstellation für das jetzige Stück kommt direkt aus diesen Erfahrungen, denn die sechs Tänzerinnen „zwischen 50 und 60“ haben schon vor 30 Jahren mit Czurda gearbeitet und sind nun auch Mit-Choregraphinnen.
Petra Heinl, Anke Rohlfs-Albert, Wübke Rohlfs-Grigull, Inge Utz-Krödel, Iris Voß und Petra Weidig haben scheinbar mühelos wieder zusammengefunden. Mit Seniorentheater hat das nichts zu tun, allenfalls mit den Energiestößen des einstigen Nederlands Dans 3, aber man könnte es durchaus als Makel der Aufführung sehen, dass das Alter nicht spielerisch umgesetzt, sondern bloß mal ironisierend mit ein paar tattrigen Aktionen verscheucht wird. Die Damen sind also gut in Form und wollen es – den Voices, dem Publikum und sich selbst – beweisen. Das gelingt absolut. Auch wenn beim späten „Je t´aime“-Gerangel zwischen stampfender Urkraft und elegischer Melancholie kurz nochmal der Gedanke an die verpasste Satire auftaucht. Jutta Czurda entschied sich für den anderen Weg, indem sie zum Tanz auch den Sound mit zerbrechenden Scherben und tosenden Knalleffekten über dem sanft schwebenden Säuseln der Stimmen in den Dienst suggestiver Empfindungen stellte. Gemütlich wird es nie.
Ein mutiger, ungewöhnlicher Tanztheater-Abend – vom Premierenpublikum mit langem Beifall gefeiert. Die Choreographin Jutta Czurda ist wieder da!