Foto: Die Deutsche Erstaufführung von Peter Turrinis "Aus Liebe" am Staatstheater Nürnberg. V.l.n.r.: Christian Taubenheim, Stefan Lorch, Marion Schweizer, Philipp Weigand, Jochen Kuhl
© Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 27. Oktober 2014
Am Anfang war das Bild! Ehe das Wort erteilt wird in dieser Deutschland-Premiere von Peter Turrinis „Aus Liebe“ – quasi von Schöpfer zu Schöpfer, denn der Autor lässt alsbald den „lieben Gott“ persönlich bei der Betriebsbesichtigung auftreten – gibt es erst was zu gucken. Katastrophen-Schnipsel aus der Tagesschau und anderen Bollwerken der TV-Wahrheit belegen die Stimmungslage hinter der rissigen Folie der heilen Welt: Überall Krieg, Unglück, Hunger und „Rauchen kann tödlich sein“ oder zumindest eine Fußball-Krise. Der auch in Frisur und Herrenoberbekleidung etwas aus der Mode gefallene Gottvater kann gar nicht fassen, was aus seinem Paradies-Ersatz geworden ist und schlendert im Onkel-Pullunder mit erhobenem Missions-Zeigefinger staunend durch die desolate Gegenwart. Wenn er am Spielplatz einem Kind von Allmacht erzählt, als ob das die Vorstufe zu Süßigkeiten sei, müsste die Mutter eigentlich schnellstens die Polizei rufen. Tut sie aber nicht, sie spendet dem Zausel zwei Euro – und auch das folgende Mörder-Drama in Szenen-Miniaturen bevorzugt ja eigentlich die kleine Münze.
Peter Turrini, der an den Wiener Bühnen gerade mit vier Produktionen zum 70. Geburtstag angemessen gefeiert wird, beruft sich in seiner 2013 entstandenen Story der antwortlosen Frage auf die am Boulevard einst hoch gehandelte reale Geschichte des „Wiener Hackenmörders“. Da erschlug ein bislang friedlicher Mann seine Familie brutal mit der Axt und gab beim Verhör bei der Frage nach dem Warum nur ein Motiv an: „Aus Liebe“. Was das bedeuten mag, konnte er nicht erklären, weshalb der Dichter in seiner Verkünstelung der Brachialgewalt auf den Allgemeinplatz umlenkt, dass „das Mörderische mehr oder weniger in jedem von uns steckt“. Ausgehend von einer freudlosen Familie am Frühstückstisch (Papa liest Zeitung und schlürft aufdringlich, Mama schaut frustriert zu, kann nur böse enden) kreist in der deutschen Erstaufführung am Schauspielhaus Nürnberg ein Reigen von Momentaufnahmen durch gefächerten Alltags-Horror. Mit einigem „Kottan“-Aroma und „Präsidentinnen“-Nachhall: Polizist kämpft im Revier mit Getränkeautomat, Witwe lauert in Konditorei auf Torten-Beute. Dazwischen erzählt der Ehemann (Stefan Lorch) seiner Stamm-Prostituierten (Henriette Schmidt) von der Liebe zur Ehefrau (Louisa von Spies) – und erschlägt selbige dann nach Tatwaffen-Shopping im Baumarkt. Irritierend an diesem Mosaik-Fragment der offenen Fragen ist der unveränderlich ratlos bleibende Blick, der Entsetzen mit Achselzucken zu kombinieren scheint.
Regisseur Markus Heinzelmann will in Nürnberg (wo es Turrini lebenslang bisher nur auf drei Premieren, aber vor gut 40 Jahren immerhin auf die Uraufführung „Die Wirtin“ brachte) viel mehr als das kleine Ringelspiel mit Spott und Seufzern. Er hat sich offenbar vorgenommen, im Geiste der Filmstudio-Dramaturgie von Katie Mitchell den schmalen Theater-Text in die andere Welt der Video-Bruderschaft umzuleiten. Die Bühne von Gregor Wickert dient dieser Ästhetik vorbehaltlos, indem sie zwischen Möblierungs-Andeutungen sichere Plätze schafft für Kamera-Stationen und Kabelsalat-Beilage. Über versenkbaren Spielkabinen sieht der Zuschauer auf großer Leinwand die Original-Szene aus anderer Perspektive oder in ausgeschnittenen Nahaufnahmen zusätzlich nochmal, kann sogar ihre Manipulation durch Überblendung oder Vertonung im Detail miterleben. Aber anders als bei Mitchell, wo die vorgeführte Zersplitterung des Dramas den neuen Blick aufs Ganze trainiert, sieht man bei Heinzelmann vorrangig die von der empfindsamen Brüchigkeit des Textes völlig losgelöste Lust auf Technik. Die mehr vom Inszenierungs-Stil als durch die Dialoge geforderten Schauspieler schieben Kulissenwände und bringen fleißig Kameras in Anschlag, das Publikum wird zur Wanderschaft durch den Livestream-Blickfang eingeladen. Zu erleben ist diese von komplizierten Handgriffen im Halbdunkel gelenkte Szenen-Entwicklung, die das Geschehen zwangsläufig entschleunigt und den Sketch-Wirbel so zur unfreiwilligen Elegie macht, immer wieder als großspuriger Anlauf zum kleinen Sprung ins Theatralische. Turrinis eigenwillig schlichter Stil, vielen Fragen demonstrativ keine Antwort und den Mosaiksteinchen keine Bild-Vollendung zu gönnen, der ja auch als Provokation verstanden werden könnte, verläppert wirkungslos im elektronischen Rundschlag.
Am Ende hat der liebe Gott (der samtstimmige Jochen Kuhl macht Winkewinke) ein paar lebenserhaltende Hauch-Proben spendiert und zwei Kinder teilen sich nun in der offenbar wieder heilen, in Keimfreiheit erblühten Welt einen Apfel. Zurück zu paradiesischen Zuständen? Diesmal verführt jedenfalls der Junge das Mädchen zum Obst, eine Schlange ist nicht in Sicht, also hat wenigstens die Theologie was zu knabbern an diesem Nürnberger Turrini-Missverständnis.