Foto: Roberto Ciullis "Langen Tages Reise durch die Nacht" in Mülheim. Szene aus dem Schlussakt © Joachim Schmitz
Text:Andreas Falentin, am 24. Oktober 2014
Gleich Zu Beginn ein leise ironischer Reflex: Nebel dringt durch die Bodenritzen. Aber hier ist nichts geheimnisvoll oder gar unheimlich, nur leblos, ein unerbittlich gleichmäßig abrollender, klar geformter, aber locker modellierter Reigen unseliger Geister, so faszinierend wie quälend.
Gralf-Edzard Habbens Bühne ist eine stilisierte, verkommene Krypta. Wasser steht auf dem Boden, darin Bücher, lose Blätter, Schuhe, eine Brille, sogar der allgegenwärtige Schnaps. James Tyrone trägt eine rote Nase, ein stigmatisierter Säufer, ein abgestorbener Clown. Braune, sumpfige Flecken auf seiner Jacke, und auf der Kleidung seines Sohnes Edmund sprechen von Verfall. Es herrscht furchtbare Lethargie. Sogar wenn Edmund Tyrone tanzt, wenn sein Bruder Jamie die Stimme hebt, geschieht das ohne wirkliche Lebensenergie.
Altmeister Roberto Ciulli hat O’Neills autobiographisch grundiertes Vermächtniswerk genau gelesen. Diese „Lange Reise“ ist keine ausagierte Trinker-Depression und erst recht kein Vehikel für große Schauspielernamen, wie so oft in der knapp 60-jährigen Aufführungsgeschichte. Der Drogenkonsum wird nicht für brillante Darstellung von Räuschen genutzt. Hier werden Stumpfheit, Abgestorbenheit, Kreisen um sich selbst und die anderen, die Mitinsassen der Familie, vorgeführt. Und, eine Überraschung, Ciulli entdeckt viel, sehr viel Zärtlichkeit, selbst bei James, dem Vater, der seine Söhne alkoholabhängig gemacht hat wie sich selber und zu geizig ist, dem tuberkulosekranken Edmund einen guten Arzt zu bezahlen; auch bei der Mutter, die zu Beginn aufgemacht erscheint wie Bette Davis in „Whatever happened to Baby Jane“, als monströse, uralte Nymphe. Später, in der Nacht, wird sie als wirklicher Spuk, als Weiße Frau lautlos lächelnd durch den Raum schweben. Die Söhne sind bleich geschminkt. Jamie, der Ältere, trägt einen Anzug. Man sieht ihm an, dass er eigentlich wer ist, der die Leute beeindruckt, der hätte „Karriere“ machen können. Aber er trinkt eben und wälzt sich immer wieder im Delirium Tremens. Edmund trägt Schlabberlook und Poetenhut. Und er tanzt, ganz eigenartig, zu „This ist the End“ von den Doors. Alle vier können sich nicht ertragen, wünschen sich das Schlechteste, und haben sich dabei unglaublich lieb.
Ciullis „langen Tages Reise in die Nacht“ ist ein sehr puristisches Theatererlebnis. Keine multimedialen Reize, kaum Exaltationen, weder im Bild noch in der Bewegung. Und eine Symphonie der leisen Töne. Ausgerechnet Klaus Herzog, der den Patriarchen, den erfolgreichen Schauspieler spielt, artikuliert bewusst kunstlos, in höchstem Maße timingsicher, aber spröde. Mary, seine morphinsüchtige Frau hingegen, ist bei Simone Thoma ganz Kunstprodukt. Sorgfältig wiegt sie die Worte, setzt sie die Sätze, findet sie für jeden Akt eine eigene Tonhöhe. Fabio Menendez spricht als Jamie am ehesten wie ein konventioneller Schauspieler, artikuliert sonor, hält die Stimme aber flach, gestattet keine Tiefe, weder so noch so. Marco Leibnitz als Edmund: reiner Samt, schön, ebenmäßig, kaum bewegt, dennoch oft bewegend. Das Ganze ginge auch als Hörspiel durch.
Der Schluss ist schwerelose Improvisation, ein Familienspiel, charmant, noch einmal überbordend zärtlich, fast unwirklich. Dann verlischt es, stirbt es wieder ab. Faszinierend und quälend, mit leisem, untergründigem, schwer greifbarem Witz.