Die letzten Schwaden sind verweht, die großen Ferien vorbei. Richtig schönes Wetter gab’s offenbar in die-sem Sommer kaum in Bad Mersdorf; das sagt jedenfalls der Wetterbericht, den Uraufführungsregisseur Gordon Kämmerer der fiktiven Kleinstadt verordnet hat, in der „Das Tierreich“ beheimatet ist im preisgekrönten Jugendstück von Jakob Nolte und Michael Decar, in und angesagt derzeit als Autorenduo Nolte-Decar.
Alle naselang blakt in der „diskothek“ vom Leipziger Schauspiel dichter weißer Dunst ins Bühnen-Rechteck; und die fünf Ensemble-Kräfte, die 21 Stück Bad-Mersdorf-Personal unter sich aufteilen, atmen vermut-lich tief durch, bevor singend und tanzend, grölend und blökend, vor allem aber immerzu fürchterlich aufgeregt die nötigen Podeste hin und her wuchten. Die fünf Figuren lassen sofort ahnen, wohin die Reise gleich geht: mit Monster-Köpfen wie bei Frankenstein, Buckeln wie bei Richard III und aufgeblasen-ausgestopft wie im Vorjahr bei Claudia Bauers Uraufführung von Wolfram Hölls „und dann“, ebenfalls in Leipzig und ausgezeichnet mit dem jüngsten „Stücke“-Preis in Mülheim. Damals hat Verpackung geholfen – diesmal eher nicht.
Denn der gute, alte Verdacht ist ja nicht aus der Welt: Fällt dem Regisseur nichts ein, setzt er Trockennebel ein. Hier ist es genau umgekehrt – weil Re-gisseur Gordon Kämmerer immer wieder von neuem ein-fällt, alles in diesen elenden weißen Waber zu tauchen, und weil Josa David Marx eine veritable Kostüm- und Ausstattungsorgie vom Zaun brechen durfte und weil schließlich auch noch der Soundtrack (über An-dreas Doraus „Fred vom Jupiter“ vom Beginn der 80er Jahre und Wladimir Wissotzki bis zu neuerer Punk-Poesie, die mitteilt, dass Menschen auch nur „geile Tiere“ seien) möglichst viel Ablehnung stiftet, be-ginnt recht bald schon die Suche nach dem Text…
Der ist sehr überschaubar und –wie recht oft bei jun-gen Texten- vorsichtshalber auch schon für die lukrative Nutzung als Hörspiel entworfen. Die Herren Nolte und Decar verwenden viel Zeit und Text auf beschrei-bende Passagen, sie folgen eher der Chronologie eines Drehbuchs: um Orte und Zeit geht’s, wie erstere wechseln und letztere vergeht. Dazwischen tauchen sehr knapp zugeschnittene Mini-Szenen auf – von der Theater-AG, die sich ausgerechnet Kleists „Prinzen von Homburg“ vornimmt, oder von der zeitversetzt tagenden Schülergruppe, die nach einem neuen Namen für das ei-gene Hindenburg-Gymnasium sucht. Und die Schülerzei-tung sucht derweil tolle Texte – alles ganz nett und alles eher banal, nur zuweilen auf Pointe gestrickt im Siegerstück des Berliner Brüder-Grimm-Preises.
Leute verlieben sich und wissen noch nicht recht wie das geht, andere hauen einander eins die Fresse, wie-der andere bauen einen Unfall-Crash mit der Freundin, die dabei ein Bein verliert: Alltag in Bad Mersdorf. Irgendwann fällt ein ausgewachsener Panzer ins Schul-dach, wahrscheinlich aus einem Flugzeug gefallen… mehr war nicht in diesem Sommer in Bad Mersdorf.
Kämmerer hat den zuweilen absurd an- und abschwellen-den Strom der Nichtigkeiten im Text von Nolte Decar aufgeplustert, als ginge gleich morgen die Welt unter und die Menschen platzten aus allen Nähten. Das mag zwar weithin recht amüsant sein, an der Oberfläche zumindest – was die Herren Nolte und Decar aber su-chen, vielleicht, wäre wohl eher der Blick wie in ei-nen wimmelnden Ameisenhaufen, in dem sich (so sieht es der Betrachter) vollkommen ungeordnet-chaotisches Leben abzuspielen scheint. Ameisenforscher wissen es natürlich besser. Der Blick auf die Menschen, wie die Autoren sie zeigen, offenbart hingegen tatsächlich vernunft- und zielloses Vor-sich-hin-Delirieren, üb-rigens nicht nur bei den jüngeren Bad Mersdorfern, denen das Interesse von Nolte Decar gilt. Kämmerer hingegen zwingt die Uraufführung in einen Wahnsinns-wirbel aus Jux und Lärm und Dollerei – eben in den Mutanten-Stadl. Aber sicher bekommt das Stück irgend-wo demnächst die nächste Chance.