Nicol Omezzolli im zweiten Teil des Abends, "L'Arlésienne"

Hochglanztanz

Antoine Jully: Deca-Deci / L'Arlesienne

Theater:Oldenburgisches Staatstheater, Premiere:11.10.2014 (UA)Komponist(in):Andrei Eschpai, Georges Bizet

Puuh, ist das schön. Hochglanztanz! Schwarze Bühne, veredelndes Licht. Eine männliche Statue erwacht ruckartig tastend zum Leben, lässt die Arme wie befreit kreiseln, will den Raum erkunden. Schon flattern stolzgerade Frauen vorüber, weitere Männer gesellen sich mit vorsichtigen Annäherungsgesten dazu – und probieren einen etwas kerligeren Motionskanon. Alle Körper sind mit der Erotikmacht von Netzhemden geschmückt, sehnen sich aber nicht nacheinander, werden eher für Sekunden zueinander genötigt. Es folgt ein immer apart keusches Umkreiseln, Anspringen, Herumschleudern. Gegenseitiges Vorführen und gemeinsames Niederlegen. Während fortgesetzt elektrische Entladungen die Muskulaturen durchzucken. Zur Rückführung der Oldenburger Tanztheatertradition auf neoklassische Ballettästhetik wird die Geburt des neuen zehnköpfigen Ensembles gefeiert. „Deca – Deci“ heißt passend abstrakt dazu die Uraufführung des neuen Chefchoreographen Antoine Jully, ein aus Düsseldorf zugereister Martin-Schläpfer-Schüler. Er animiert seine Compagnie, die Bühne erstmal wie einen Laufsteg zur Erweckung ihrer Kunst zu nutzen. Mit selbstbewusstem Schritt, unnahbar cool wie Models, zeigen die Tänzer wie technisch hochwertig sie das klassische Bewegungsvokabular beherrschen – vom Spitzentanz über Pirouettenwirbel und Pas-de-deux-Akrobatik bis hin zu sportivem Modern-Dance-Vokabular. Spotlight-Auftritte, professionelles Lächeln und wieder ab. Mehr eine Art Vortanzen – mit dem Publikum als zu begeisternder Jury. Schon bald steht einer der Bewegungskünstler mit einem Kerzenleuchter auf der Bühne und reibt sich bibbernd die Finger warm. Diese Show will von so erlesener Schönheit wie kühler Grazie sein, daher mangelt es vor allem an Lebensfunken als Enteisungsmittel. Und dann scheitert auch noch peinlich der einzige Versuch, witzig zu sein: Als jedem Tänzer ein Spielball überreicht werden soll, fehlt ein kugelrundes Requisit, so dass ein Künstler dann seinen Hodensack schaukelt. Eine schwierige Geburt also, diese Choreographie. „Was entsteht, hat noch kein Fundament“, schreibt denn auch die Tanzdramaturgie ins Programmheft. Immerhin das vermittelte sich in aller Deutlichkeit. Nur einen wirklich emotionalen Moment gab es: Das Ensemble hockte zum Finale an der Rampe, mit aufgerissenen Augen und hypernervösen Fingertänzen. Der Anspannung folgt der Jubel des Publikums: Entspannung. Als beeindruckend erweis sich vor allem der musikalische Teil, Andrei Eschpais 5. Sinfonie. Ihrer deutschen Erstaufführung wohnte der russische Komponist im Staatstheater bei. Düster spätromantisch anmutende Klangballungen, schroffes Ausreizen der Tonalität, rhythmische Prägnanz und alpträumender Lyrismus prägen das stilistisch vielschichtige, virile Werk, auch wenn es nicht die hochdramatisch bezwingende Konsequenz etwa von Igor Strawinskys „Sacre“-Musik erreicht.

Nach der Pause wird die Bühne heller, das Licht wärmer. Barfuß soll die kinetische Energie jetzt ausgelassener aufgeführt und mit einem Handlungsballett geprunkt werden. Georges Bizet hatte 1872 die Bühnenmusik zu „L’Arlésienne“, ein Schauspiel von Adolphe Daudet, komponiert und diese in eine viersätzige Suite umgearbeitet, der posthum eine weitere hinzukompiliert wurde. Antoine Jully erzählt nun mit seiner zweiten Uraufführung das Drama zu den tänzerisch beschwingten, volksmusikalisch inspirierten Klängen. Frédéri liebt ein Mädchen, will es heiraten, Mama stimmt zu, Papa sagt mit deutlichem Fingerzeig: nein. So lässt sich der Junge tröstend von einem anderen Mädchen umgarnen. In der Rolle gibt Nicol Omezzolli flirtend wirklich alles: anschmiegen, bestreicheln, Haare wedeln, herumhüpfen, Kleidchen heben, Demut in Zeitlupe zelebrieren. Aber Frédéri guckt abwesend ins Leere, will nur die andere, die Abwesende, die nicht Opportune. Während das Ensemble drumherum Dorfparty feiert oder Träume des Verliebten nachstellt. Schließlich zelebriert Lester René González Álvarez ein Jetzt-muss-eine-Entscheidung-her-Solo. Mutig und mit Esprit modifiziert er das zackige Tanzgetändel einmal geschmeidig mit individuellen Ausdrucksvarianten, kann so eine Ahnung der inneren Not und leidenschaftlichen Sehnsucht seiner Frédéri-Figur vermitteln. Und springt dann getreu der Vorlage in den Tod, also ins Dunkel, wo ihn Kollegen auffangen. Letztendlich ist es ein recht naiver Ansatz, eine solch schlichte Liebesleidgeschichte an der narrativen Oberfläche und am musikalischen Geschehen entlang nur zu illustrieren und springfidel zu garnieren: temporeich, bruchlos. Sieht schnieke aus, unterhält putzig, will inhaltlich nichts.