Foto: Ping, Pang und Pong als Folterknechte: Sébastien Parotte, Hans Kittelman und Martin Platz mit einer Statistin in der Nürnberger Inszenierung von Calixto Bieito. © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 6. Oktober 2014
Es beginnt musikfrei und wie auf einer Tauschbörse für China-Klischees: Der Palast von Peking als riesiges Gefängnis aus Versandkartons, das Volk marschiert in Blaumann-Uniform mit Mundschutz und ein Aufständischer setzt sein Fahrrad in Flammen, an deren revolutionärer Hitze sich die zynischen Machthaber in Anzug und Krawatte wärmen. Das ist kein Bild aus der im Libretto beschworenen „sagenumwobenen Vergangenheit“, das Regisseur Calixto Bieito mit seiner Nürnberger Inszenierung von Puccinis „Turandot“ da als Aktions-Basis entwirft, sondern gegen alle Exotik die schärfstmögliche Behauptung von staatsgewalttätiger Gegenwart. Aus der funkelnden Kaiserreich-Kulisse, wo die mörderische Prinzessin ihre Freier per Fragespiel ins Jenseits befördert, ist im Bühnenbild von Rebecca Ringst die Installation einer Lagerhalle wirtschaftlicher Weltmacht geworden. Der allseits bekannte „himmlische Frieden“ liegt wie eine Drohung über der Szene. Wenn die Musik mit wuchtigem Effekt einsetzt, beginnt ein Reibungsprozess zwischen emotionalen Gegenwelten, der anfangs holpert und dann zunehmend Funken schlägt.
Indem sie das unvollendet gebliebene Werk ohne die übliche, nach wie vor umstrittene Final-Ergänzung ausdrücklich als „Ein Fragment“ präsentieren, haben Bieito und Dirigent Peter Tilling für die Produktion, die nächstes Jahr nach Toulouse und Belfast weitergereicht wird, eine mutige, auch etwas mutwillige Grundsatzentscheidung getroffen. Man bricht also dort ab, wo Puccini nicht weiter gekommen war, macht den Foltertod der Sklavin Liù zum Fanal von Liebe und Poesie. Das kann man als Respekt vor dem Komponisten sehen (immerhin hat Toscanini, allerdings nur am Tag der Uraufführung, auch an dieser Stelle aufgehört), aber hier ist es natürlich vor allem der Schleichweg zu einem anderen Stück. Die wundersame Wandlung der eiskalten Prinzessin, die den Sprung von der Blutspur ins Liebesglück grade noch schafft, findet nicht statt. Zu den letzten Takten sieht man sie im absoluten Gefühlschaos, wie sie mit leerem Blick nach einem Stapel Baby-Puppen aus der Massenproduktion greift um sie, eine nach der andern, herzend zu zerstören. Die Magie des Schreckens triumphiert, das Happy-End ist blockiert.
Bieito inszeniert „das Volk“ als manipulierbare Chor-Masse, die bellende Kommentare im Schutz der Anonymität ausstößt und im Zweifelsfall dem eigenen Schicksal den Rücken zuwendet. Turandot-Bezwinger Calaf ist in deren Augen als Held nur bedingt einsatzbereit und scheitert, wenn er sie aus ihrer Unterwürfigkeit buchstäblich aufrichten will. Gegen die Realität setzt er den Traum, tauscht zum „Nessun dorma“ das staatlich verordnete „Verräter“-Schild an seinem Hals mit dem Trost-Pamphlet „Poesia“ – bis ihm das zerfetzt wird. Heldentenor Vincent Wolfsteiner singt und spielt diese verwundbare Lichtgestalt hochkonzentriert mit komplexer Energie, auch wenn die Biegsamkeit der Stimme nicht ganz reicht. Rachel Toveys Turandot ist glücklicherweise keine Mao-Witwe, sondern ein zeitlos polyglottes Psycho-Monster unter nur zeitweise schützender Blondhaar-Perücke – Metapher unkontrollierter Willkür aus Wut und Verzweiflung. Ihre hochdramatisch ausfahrbare Stimme, die noch im schreckensreichsten Auftritt immer lyrisches Innenfutter ahnen lässt, sagt mehr als jede Regie. Und passt dabei genau zur Inszenierung. Bieito fixiert die allgegenwärtige Gewalt nah am Publikum an der Rampe, wobei er für seine Verhältnisse eher diskret beim erkennbaren Theatereffekt bleibt, und skizziert mit den anderen Figuren schemenhafte Charakterköpfe in gebrochenen Welten. Die drei oft so läppisch auftretenden Staatsdiener Ping, Pang und Pong (bestens besetzt: Sébastien Parotte, Hans Kittelmann, Martin Platz) sind Repräsentanten. Sie foltern amtlich in Soldaten-Uniform, tauchen ebenso hemmungslos unter einem Himmel voller rosa Lampions in ihren privaten Travestie-Traum. Nürnbergs Vorzugs-Stimme Hrachuhí Bassénz gibt der sanftmütigen Liù neben der übermenschlichen Entsagung einen Hauch von erotischer Sehnsucht und wird am Ende besonders gefeiert. Dazwischen die gespenstische Erscheinung des vergreisten Herrschers in Windelhose. Kein Würdenträger, sondern zur Unkenntlichkeit verkümmerte Macht in drastischer Darstellung: Der großartige Richard Kindley krabbelt als Kaiser mit der offenen Urne der Ahnen, sozusagen mit seiner eigenen Zukunft, durch eine fremd gewordene Welt.
Dirigent Peter Tilling hat einiges zu tun, um die ohne Anlauf einsetzende Bombastik von Orchester und Chor zum nachvollziehbaren Klangbild zu formen. Die schnell wundgescheuerte Hochdramatik braucht etwas Erholungszeit. Wo sich die Bühne dann vom Tableau-Pathos befreit, wird es auch im Graben differenzierter. Die Bannkraft der Bilder, die so gar keine Furcht vor alternativem Opern-Kitsch kennen und mit diesem Selbstbewusstsein durchaus punkten, lässt für die Musik den Sog entstehen, der auch den Zuschauer aus seinem distanzierten Blick lockt.
Es ist nicht Calixto Bieitos wildeste oder schlüssigste Inszenierung, also der Erinnerung an den Stuttgarter „Parsifal“ oder der Berliner „Entführung aus dem Serail“ nicht ganz gewachsen, aber ein spannendes Theater-Erlebnis mit Erregungspotenzial allemal. Bei der Premiere gab es Jubel für die Sänger, Respekt für den Dirigenten und ein tosendes Gemisch aus Buh und Bravo für das Inszenierungs-Team. Das lässt sich demnächst modifizieren: Nürnberg hat den Regisseur bereits für die Berlioz-„Trojaner“ gebucht.