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Irrfahrten im Klangraum

Claudio Monteverdi: Il ritorno d'Ulisse in patria

Theater:Staatstheater Darmstadt, Premiere:25.09.2014Autor(in) der Vorlage:Homer: OdysseeRegie:Jay ScheibMusikalische Leitung:George Petrou

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Ein richtiges Theaterabenteuer! Das ist ja nicht die schlechteste Art, eine neue Intendanz zu beginnen. Und die Produktion „Odyssee“ zum Auftakt der ersten Opernspielzeit des neuen Intendanten Karsten Wiegand am Staatstheater Darmstadt ist so ein „Theaterabenteuer“ in des Wortes direktester Bedeutung. Die Zuschauer begeben sich hier auf Irrfahrt in Regionen, die ihnen normalerweise unzugänglich bleiben: in die Hinterbühnen-Innenwelt des coolen, weißen Darmstädter Theaterbaus (einer der architektonisch ambitioniertesten der Nachkriegszeit, 1972 eröffnet und 2006 umfassend renoviert). Und sie müssen sich, bevor sie mit Claudio Monteverdis Odysseus in die Heimat zurückkehren dürfen, ihren Weg tatsächlich selbst suchen. Denn anfangs, bei dem als Prolog vorangestellten Orchesterstück von Luigi Nono, gibt es „den Weg“ gar nicht. „No hay caminos, hay che caminar“ hat Nono sein letztes Werk für Orchester nach einer Gedichtzeile von Antonio Machado genannt: „Es gibt keine Wege, es gibt nur das Gehen“.

Also gehen die Zuschauer – zunächst noch freundlich behütet vom ortskundigen Personal des Hauses – durch verwinkelte Gänge und sehen sich schließlich auf der Hauptbühne des Großen Hauses einem ungewöhnlichen Arrangement gegenüber. Nono hat „No hay caminos…“ für sieben Orchestergruppen komponiert, die nun rund um die im Zentrum leere Bühne verteilt sind. Die Bläsergruppe sitzt sogar weit hinten im Parkett, und die Zuschauer können sich inmitten der Klanglandschaft, die von allen Seiten auf sie eindringt, frei bewegen. Sie suchen sich ihren Weg und erschaffen damit ihr persönliches, sich je nach Bewegung wandelndes Klangbild. Und der Blick von der Bühne ins weite, samtrot schimmernde Auditorium des weitläufigen Hauses, hinauf in die dämmernde Höhe des Bühnenturms mit seinen Prospektzügen und Beleuchterbrücken oder auch auf die in unmittelbarer Nachbarschaft tätigen Orchestermusiker – das alles hat schon einen großen Reiz.

Gegen Ende das Orchesterstückes mischen sich dann auffällig kostümierte allegorische Gestalten unauffällig unter die Zuschauer, Drahtseile baumeln herab, und plötzlich schweben Amor, Il  tempo und Fortuna hoch über dem Zuschauergewimmel, und als „Menschliche Vergänglichkeit“ beklagt Anja Bildstein mit samtener Mezzo-Stimme eben diese: die Hinfälligkeit des Menschen im wirren Widerspiel von Liebe, Zufall und Zeit. Claudio Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in patria“ hat begonnen, und die Zuschauer haben eine Menge zum Staunen – die die Oper kennen auch darüber, was bei dieser Heldenheimkehr so alles fehlt: ein Großteil des Götterszenarios nämlich, durch das die Handlung manipuliert und kommentiert wird. Nur Minerva spielt noch eine größere Rolle.

Das ist in diesem Kontext aber legitim. Denn die Dramaturgie des Abends beruht auf dem Zusammenspiel der Werke und nicht auf ihrer individuellen Form. Und dieses wechselseitige Spiegelverhältnis macht auf vielen Ebenen Sinn. Beide Komponisten waren ja Venedig eng verbunden; Nono wurde hier 1924 geboren und blieb der Stadt Zeit seines Lebens eng verbunden, Monteverdi erlebte als Kapellmeister an San Marco seine künstlerische Blüte. Beide erforschten intensiv den Raumklang der Musik. Und in Nonos Melodiebildung und Vokalstil (wenn auch weniger in „Non hay caminar“) zeigt sich eine intensive Auseinandersetzung mit dem italienischen Madrigal und Monteverdis Seconda pratica, bei der der sprachliche Duktus der Singstimme die Herrschaft über das kompositorische Konstrukt übernimmt. Tatsächlich war es so, dass das Lauschen auf die subtilen Reibungen und überfallartigen Erschütterungen von „Non hay caminar“ das Ohr des Hörers in ungeahnter Weise schärfte für die zarte Emotionalität von Monteverdis „Ulisse“. Dass umgekehrt das Klacken harter Absätze auf resonanzreichem Holzboden die Ohren für Nonos Subtilitäten geöffnet hätte, kann man nicht so zuversichtlich behaupten. Aber hier gibt eben das Gesamterlebnis den Ausschlag.

Und das ist auch eine starke Setzung für Wiegands neue Intendanz: Hier werden Grenzen des Musiktheaters befragt und verschoben, wie das in Darmstadt lange nicht mehr der Fall war. Und man erinnert mit Nono an eine Darmstädter Tradition, die das Opernhaus der Stadt lange eher stiefmütterlich behandelt hatte: Ab den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik eine Keimzelle der Wiedergeburt der musikalischen Moderne in Deutschland nach der NS-Barbarei. Nono spielte dort eine wichtige Rolle, aber auch andere wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Edgard Varèse, Olivier Messiaen, John Cage, später Helmut Lachenmann und Brian Ferneyhough. Wenn sich die Darmstädter Oper weiter mit dieser Tradition auseinandersetzte, könnte das musiktheatral hochinteressant werden und ihr ein originär aus der Stadt hervorgehendes Profil verleihen. Der zweite Schritt dazu ist bereits avisiert: Am Ende der Saison (Premiere: 9. Juli 2015) kommt Nonos „Prometeo“ auf die Bühne des Großen Hauses.

Und vielleicht findet man für mutige Taten auch noch ein mutigeres Regieteam als jetzt. Bis zur Pause – sie ist in den ersten Akt des „Ulisse“ eingeschaltet, nach dem Liebesduett von Melanto und Telemaco – führte gleichsam das Haus selbst Regie, das der Regisseur Jay Scheib und sein Bühnenbildner Philip Bußmann durch geschickt gesetzte Akzente wirkungsvoll zur Geltung brachten. Nach der Pause aber waren die beiden sowohl mit ihrer raumgestalterischen Phantasie wie auch mit der interpretatorischen Intelligenz so ziemlich am Ende, und die bis dahin abenteuerlich irrfahrende Inszenierung strandete an den vertrauten Gestaden des konventionellen Theaters. Zwar sitzen die Zuschauer jetzt auf einer Tribüne auf der Hinterbühne. Aber Bußmanns raumbeherrschende Treppenarchitektur, der sie sich nun gegenübersehen, hätten sie sich genau so gut (und bei bequemeren Sitzkomfort) auch von der anderen Seite, vom Zuschauerraum aus, anschauen können. Und die choreographisch stilisierten Aktionen in den teils pittoresken, oft auch schlicht klischeehaften Kostümen von Meentje Nielsen, mit denen Scheib diese Treppe bespielt, sind revuehaft dekorativ, bleiben aber nichtssagend. Odysseus verkleidet sich nicht als alter Bettler, sondern als grauhaarige Lady in Black – schick und Drag-Queen-mondän, aber leider nicht sinnstiftend. Dass die große Szene des verfressenen Iro als zappelnde Plärr-Arie auf die Bühne chargiert wird, ist Humor von der fasslichen Art – und damit verschenkt. Und dass Odysseus Melanto, die Geliebte seines Sohnes, tötet und dieser Sohn ganz am Ende, kurz vor dem finalen Blackout, noch mal rasch drohend das Messer gegen den Vater zückt, bleibt belangloses Aperçu.

Der Dirigent George Petrou ist offenbar kein Anhänger jener aufgerauten, rhythmisch pulsierenden, dynamisch schroffen historischen Praxis, der wir tiefe Einblicke in das Affekt-Innenleben der oberflächlich so ebenmäßigen Barockmusik verdanken. Er hält es eher mit einer lyrischen, subtilen, gestisch allerdings intensiven Lesart. Bei ihm klingt Monteverdi sehr „schön“, während er Nono weder in der Intensität des Leisen noch in der schroffen Zuspitzung etwas schuldig bleibt. Das bei Monteverdi um einige Continuo-Instrumente erweiterte Staatstorchester Darmstadt musiziert animiert und sehr einfühlsam und gestaltet ein gefälliges Hörerlebnis. Und man muss Petrou insbesondere das Kompliment machen, dass er mit der ungewöhnlichen Raumsituation souverän umgeht und das Sängerensemble vorzüglich auf einen zarten, sensibel-emotionalen Monteverdi-Ton eingestimmt hat. Nur die Aufstockung der Freier zum kompletten Chor wirkt deplatziert. Bei den vielen Solisten bleibt vor allem Jana Baumeisters lyrisch schmiegsamer, wunderschön leuchtender Sopran (Fortuna und Melanto) im Ohr, auch der ausdrucksvoll herbe, aber nie grobe Mezzo, mit dem Mary-Ellen Nesi dem Leid der Penelope Ausdruck verleiht, und der kernige, gleichwohl klare und lyrisch sensibel geführte Tenor von Minseok Kim (Telemaco und Eurimaco). In der Titelpartie zeigt David Pichlmaier Einfühlsamkeit und edle Eleganz, aber auch einige Wackeleien bei der Intonation.

Am Ende große Begeisterung beim Publikum. In der Tat: Diese Eröffnung war ein Versprechen. Man ist gespannt auf das, was folgt!