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Eva im Wunderland

Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg

Theater:Theater Bremen, Premiere:21.09.2014Regie:Benedikt von PeterMusikalische Leitung:Markus Poschner

Wie immer auch Benedikt von Peter eine Oper analytisch aus- oder gar zerlegt; und was immer man gegen so eine Interpretation oder Dekonstruktion im Einzelnen einwenden mag – auf eines kann man sich verlassen: dass man einen gleichermaßen klugen wie vitalen Theaterabend erlebt, wenn der Leitende Regisseur des Bremer Musiktheaters Hand anlegt. Nun hat er die Opernspielzeit in Bremen mit Wagners „Meistersingern“ eröffnet und ist dabei, wie in den letzten Jahren Katharina Wagner in Bayreuth oder Tobias Kratzer in Karlsruhe auch, vom selbstreflexiven Charakter dieser Oper ausgegangen: So, wie die Meistersinger mit ihrer Kunst zugleich ein Weltbild schaffen, das den Zusammenhalt einer Gesellschaft stiften soll, so wollte Wagner selbst mit seinem Musiktheater der deutschen Gesellschaft einen Zusammenhalt geben, der ihr in der realen Politik versagt blieb. Im Kunstdiskurs der „Meistersinger“ spiegelt sich Wagners Selbstreflexion über sein eigenes künstlerisches Wirken.

Folglich versinnbildlicht von Peter das „liebe Nürenberg“ der „Meistersinger“ unmissverständlich als Kunstwelt, und das mit radikaler bildnerischer Konsequenz: Das Orchester, aus dessen Klang dieses Nürnberg emporwächst, hat die Bühnenbildnerin Katrin Wittig auf einem die ganze Bühne einnehmenden Gerüst platziert, auf halber Höhe, portalfüllend bis nach oben. Auch die Figuren dieser Welt, alle bis auf Sachs und Eva, sind durch die Kostüme von Geraldine Arnold als Kunstwesen kenntlich gemacht, von den clownesken Lehrbuben bis hin zu den entsprechend ihrem Namen oder Handwerk Märchenbuch-bizarr ausstaffierten Meistersingern. Auch die Spielkonvention der Komödie wird nach allen Regeln der Kunst bedient, angefangen bei den Türen, hinter denen man sich verstecken kann, bis hin zu den akrobatischen Turbulenzen und Aktionen, mit denen von Peter und sein Bewegungstrainer Thomas Ziesch dieses Bühnenklettergerüst bespielen lassen. Und man kann die tollkühne Spiellaune dieses gesamten Ensembles wirklich nur bewundern.

Auch Bremens Generalmusikdirektor Markus Poschner hat einen hohen Anteil daran, dass der Esprit dieses vitalen Musiktheaters das Publikum so unwiderstehlich erreicht. Durch die Orchesteraufstellung hört man das Klangbild in ungewohnter Transparenz und Direktheit. Dadurch wird besonders gut nahvollziehbar, wie plastisch Poschner die musikalischen Gestalten dieser Oper modelliert, und wie genau er mit den animiert musizierenden Bremer Philharmonikern die Strukturen des Klangbildes nachzeichnet. Indem er hier ein wenig nachgibt, dort eine wenig anzieht, klare Zäsuren und dramatisch effektvolle Pausen schafft, bekommt die Musik „Charakter“. Regie und Dirigat laufen dabei nicht nur koordiniert nebeneinander her, sie formulieren dieselbe Idee, erzählen dieselbe Geschichte. Das Ergebnis ist richtig gutes Ensemblespiel – und fesselndes, teils überwältigendes Musiktheater vom ersten bis zum letzten Ton.

Benedikt von Peters Regieansatz ist eigenwillig. Man würde bei dem von ihm gewählten räumlichen Setting ja erwarten, dass er die „Meistersinger“ als ästhetisch-politisches Selbstbekenntnis des Komponisten liest und die Charaktere daraus ableitet. Doch von Peter geht genau umgekehrt vor: Er fragt zunächst danach, was die unmittelbare Interaktion der Figuren, vor allem Sachsens und Evas, über deren Charaktere verraten und kommt von dort aus zu einem Urteil über das Weltbild – zu keinem schmeichelhaften. Deshalb ist dem Bühnenaufbau ein kleines, über den Orchestergraben gelegtes Spielpodest vorgelagert: eine intime Welt mit Schusterschemel, Bilderbuch und Ritterpuppe, die man als Evas Kinderzimmer bezeichnen könnte, oder auch als ihr Gefängnis. Hier schläft die Bürgertochter anfangs, bis das Bühnengeschehen sie zum Leben erweckt. Und hier wird sehr bald klar, dass dieses „Kind“, wie sie in Wagners Libretto immer wieder genannt wird, zu Hans Sachs eine sehr spezielle Beziehung hat. Sachs „missbraucht“ Eva – ob auch in sexuellem Sinne, lässt die Inszenierung als Möglichkeit offen.

Auf jeden Fall aber indoktriniert dieser keineswegs brave Schuster das Mädchen mit seinen Märchen von der Meistersinger-Welt, er hält sie in dieser naiven Kinderwelt gleichsam gefangen. Konsequenterweise sind diese beiden auch nicht als Kunstwesen kostümiert, sondern als „reale“, private Menschen: Sachs, ein schlaksiger, hängeschultriger, langhaariger alter Mann in blassrotem Schlabbershirt und ausgebeulter stuhlgangbrauner Cordhose, ist der Schöpfer der Kunstwelt; und Eva, ein verschreckter, trauriger Pubertätspummel, der kaum die Hände aus den Ärmeln seiner grauen Kapuzenjacke bekommt, erleidet sie. Liest man diesen Subtext konsequent, dann wäre Sachs Wagners Stellvertreter und Eva sein „Publikum“ – eine ziemlich böse Pointe. In dem Maße aber, in dem dieses Mädchen erwachsen werden will, gefährdet sie die Kunstwelt des Hans Sachs und stürzt ihn in eine Schöpfer-, Macht- und Männlichkeitskrise.

Aber dieser Menschen-Manipulator gibt so leicht nicht auf. Er macht vielmehr Stolzing, den von Eva erträumten Befreier, zu seiner Schachfigur, zu einem Ritterpopanz in weißer Rüstung, mit dessen Hilfe er Eva erneut zur Kindheit verdammen will. Sein Triumph auf der Festwiese bekommt folgerichtig etwas Gespenstisches, Bedrohliches, vom Lichtdesigner Christoper Moos in kränklich gelbe Farbe getaucht. Aber Eva spielt das Spiel nicht mit. In dieser Inszenierung begehrt sie und nicht Stolzing gegen die Meister auf: „Nicht Meister! Nein! Will ohne Meister selig sein!“ – so eignet sie sich Stolzings Phrase an, ein kleiner Eingriff in die Komposition mit großer Wirkung. Damit zerbricht Sachsens ästhetische Welt endgültig: Urplötzlich ist alles Volk von der Festwiese verschwunden, Sachs beendet seine große Anspreche vor einem düsteren, (bis auf das Orchester) leeren Gerüst, und bei seiner wegen ihres nationalistischen Gehalts berüchtigten „Habet acht“-Invektive tönen die Chöre gespenstisch von den Auditoriums-Rängen herab. Mit den letzten Takten aber, wenn der Schuster abgeht, erhebt sich eine neue kleine Eva und wird vom Schuster in der Kunstwelt eingesperrt. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch…

Benedikt von Peter untermauert seine Deutung mit einer Fülle von Details, die immer neue Spuren legen: die roten Kinderschuhe, die Sachs der armen Eva an die Füße klebt; das Bilderbuch, das die kindliche Kunstwelt fixiert; der schrille Schrei, der immer wieder ertönt und direkt, ohne künstlerische Verklärung, aus Evas gequälter Seele zu kommen scheint; das Riesenkaninchen, das aus Alices Wunderland entsprungen sein könnte. Nicht alle diese Spuren führen zu klar erkennbaren Zielen, aber diese assoziationsreiche und teils auch ironisch gebrochene, witzige Offenheit macht die Sache umso anregender. Dass allerdings Claudio Otelli den Sachs auf die immer gleiche Altmännerpose mit hängenden Armen und hängendem Haupt fixiert, schwächt die zentrale Bedeutung dieser Figur. Und zumindest latent gerät die Inszenierung auch in Gefahr, gesellschaftliche Phänomene auf persönliche Konstellationen zu verkleinern, sie gleichsam zu privatisieren und damit hinter Wagners gesellschaftskritische Intelligenz zurückzufallen. Doch trotz solcher Einwände: Das Theater Bremen hat seine Opernsaison mit einer klugen, inspirierenden und dabei auch noch im besten Sinne unterhaltsamen „Meistersinger“-Inszenierung eröffnet.

Das wird auch ermöglicht durch ein enorm engagiertes Sängerensemble und den agilen, beachtlich präzisen, klangvollen Chor, den Daniel Mayr ausgezeichnet einstudiert hatte. Geradezu eine Entdeckung ist der David von Hyojong Kim: ein lyrischer Tenor mit hellem, kernigem Timbre, lupenreinem Fokus und vorbildlicher Artikulation, der seine Figur mit Verve profiliert. Auch Ulrike Mayers Magdalene lässt aufhorchen: ein herber, in der Höhe klar leuchtender Mezzo von großer dramatischer Präsenz. Christian-Andreas Engelhardt ist ein Beckmesser mit hellem, sehr präsentem Bariton und vitalem stimmschauspielerischen Temperament. Und Patrick Zielke charakterisiert den Fritz Kothner als Zuchtmeister der Sängerzunft mit markanter Durchschlagskraft. Alle vier sind sie ausgezeichnete Sänger – und Ensemblemitglieder in Bremen!

Bei den großen Partien macht vor allem die schwedische Gastsopranistin Erika Roos auf sich aufmerksam: eine Eva mit jungmädchenhaft schlankem, dabei aber tragfähigem, im Forte betörend leuchtendem und außerordentlich einfühlsam geführtem Sopran. Ihre delikate Eröffnung des Quintetts im dritten Akt war ein hinreißender Höhepunkt des gesamten Premierenabends. Claudio Otelli zeigt als Sachs dunkel timbrierte Kraft, Durchhaltevermögen und melodische Innigkeit. Allerdings geht sein indifferent orgelndes Dauerforcieren zu Lasten der sprachlichen Artikulation wie auch der interpretatorischen Profilierung. Ähnlich der Stolzing von Chris Lysack: Man bewundert seine Präsenz und Kondition, aber sein gepresstes Dauerforte wirkt monoton. Und auch Loren Lang gibt den Veit Pogner etwas rauhkehlig und angestrengt, ohne sonore Wärme. Allerdings zeigt sich hier, in der Anstrengung der Sänger, auch das einzige größere, vielleicht der ungewöhnlichen Aufstellung geschuldete musikalische Manko dieser eindrucksvollen Premiere: Es wird unnötig laut musiziert und gesungen. Ein bisschen weniger wäre mehr gewesen. Sonst aber gelang beachtlich viel – entsprechend begeistert war das Publikum, das beim Erscheinen des Regieteams leidenschaftlich mit Buhs und Bravos Position bezog.