Foto: Nach dem Roman von Uwe Johnson: Die Uraufführung von Holger Tesckes Bühnenfassung der "Ingrid Babendererde". Johannes Moss, Juschka Spitzer, Till Demuth, Inga Wolf, Bernd Fa?rbe, Sandra-Uma Schmitz © Thomas Häntzschel
Text:Jens Fischer, am 22. September 2014
Ahoi. Mit neuem Team in die 120. Spielzeit. 1. Stapellauf: Der lecke „Volkstheater“-Kahn wird zum Ozeanriesen „Titanic“ umgetauft. Eine kunstvolle Provokation, gewinnt man doch andernorts den Eindruck, viele Mecklenburger würden die Institution gern mit einer Abwrackprämie loswerden. Denn wohl keine deutsche Bühne hat sich durch Landes-, Stadt-, Spielplan- und Personalpolitik derart ins Abseits manövriert wie die der Rostocker. Nun soll mit den ersten drei Premieren des neuen Intendanten Sewan Latchinian die Aufbruchsstimmung angeheizt, der Demut des Pessimismus die Stirn geboten und ein Imagewandel befördert werden.
Pünktlich dazu beherrschen wieder Insolvenzszenarien, Ankündigungen der Musik- und Tanzsparten-Schließung sowie (für die Mitarbeiter) weniger erquickliche Haustarife die Schlagzeilen. Da scheint es geradezu zwingend, gleich mal Wilhelm Dieter Sieberts „Untergang der der Titanic“ zu singspielen. Alle Beteiligte tragen bereits Totenmasken, über der Bühne droht die Schneide einer Guillotine, darunter ist eine Unterwasserlandschaft zu sehen: Der mit abendländischer Kulturfracht vollgetankte, unsinkbar geltende Mythos Volkstheater ist hier bereits gesunken. Und leistet sich noch ein paar selbstbezügliche Späße: Beim Schwärmen über den „Titanic“-Luxus wird an billige Holzwände des Bühnenraumes geklopft und dem Orchester zugerufen: „Von dieser Kapelle möchte ich keine Opernmusik hören.“ Mit finanziell wenig Mitteln, fidel die jüngere Musikgeschichte potpourrierenden Instrumentalisten und den mit ironischer Verve opernden sowie tanzenden Darstellern entsteht ein durchaus wehmütig und sehnsüchtig machendes Spektakeltheater. Was die Künstler alles können, wenn sie dürfen – was man selbst davon hätte, wenn man hinginge. Noch funktionieren die Selbstrettungskräfte: Die Besucher werden zum 1. Akt auf dem maritim geschmückten Vorplatz in entspannter Proseccolaune mit Feuerwerk empfangen, mit den 2.-Klasse-Tickets ins Parkett zum Betrachten erstklassiger Schrillschrauben gelockt und schließlich durch die Gedärme des Theaterbaus gescheucht, wo hinter fast jeder Ecke Panoptikumszenen des Untergangs aufblitzen. Eine Rutschpartie führt ins Freie. Dann öffnen die Kombüsen und servieren das „Menü der Titanic vom 14. April 1912“.
Lokalkolorit als Dessert. Mit einem Star der Region eine offene Wunde der eigenen Geschichte pflegen. Die Bühne ist beengend verwinkelt und eingepackt in Banner voller SED-Propagandasprüche. Einzige Aussicht: Fluchtpunkt Ostsee. Die Uraufführung von Uwe Johnsons posthum veröffentlichtem, während des Germanistikstudiums in Rostock geschriebenem Romanerstling „Ingrid Babendererde“ ist kein Meisterwerk, aber handwerklich gut gemacht. Weniger die Ästhetik der Vorlage – multiperspektivisches Erzählen, vertrackt ironischer Manierismus – steht im Vordergrund als die Zeitchronik der frühen 1950er Jahre im abgeteilten Ostdeutschland. Erinnern, ohne nostalgisch zu werden. Auseinandersetzung mit einer entschwundenen Welt, ohne in tiefer Sehnsucht nach einer verloren gegangenen Heimat zu versacken. Zu erleben ist eine Abiturklasse. Gezeigt werden Typen, liebenswert oder lächerlich gemacht, in geradezu kabarettistisch pointierten Kurzszenen zu Konfliktlagen und Widersprüchen des real existierenden Sozialismus. Mit der lebenslustigen Titelheldin turteln, trietzen, tratschen, tatschen die drei männlichen Protagonisten herum: eine FDJler-Karikatur, der trotz aller Repressionen in Mecklenburg Wurzeln schlagen wollende Schulprimus sowie Johnsons Alter Ego, ein Klassenclown, der sich nicht länger für blöd verkaufen lassen will, offensiver DDR-Spötter und Republikflüchtling wird – der Meinungsfreiheit, nicht dem Kapitalismus zuliebe. Musiker klampfen Pop- und Parteilieder dazu. Die Publikumsansprache funktioniert derart gut, dass die Besucher mitspielen – und während einer Parteiversammlung-Szene den Phrasendrescher-Darsteller mundtot klatschen. So wie früher? Besser jetzt als nie? Selbstverständigungstheater also.
„Endlich mal wieder was los hier“, wird erleichtert im Publikum gestaunt. „Wie im Himmel“. Die Dramatisierung von Kay Pollaks Film gibt’s obendrauf. Etwas enttäuschend, wie über viele Abgründe herzig menschelnd hinweginszeniert und vor allem die Möglichkeit gelebter Solidarität gefeiert wird. Rühren wollendes Wohlfühltheater. Aber Theater als Fest: Die Einladung hat funktioniert. Bejubelt werden Vertreter aller Sparten, als sie weit nach Mitternacht, einen achteinhalbstündigen Arbeitsmarathon in den Knochen, auf der Bühne mit einem „Es lebe das Volkstheater“-Banner wedeln. Es ist zwar fahnenweiß. Aber aufgeben hat hier keiner.