Foto: Christoph Willibald Glucks "Orphée et Eurydice" im Münchner Maximilians-Forum. Renan Martins de Oliveira und Manuela Fiori Schneider vertanzen als Alter Ego die psychischen Innenwelten Orphées (Derek Rue) und Euridices (Danae Kontora) © Michaela Schabel
Text:Michaela Schabel, am 2. September 2014
Christoph Willibald Gluck, Orphée et Eurydice, Opera Incognita, München, Andreas Wiedermann, Ernst Bartmann, Manuela Schabel
„Oper incognita“ wandelt Glucks „Orphée“ im Münchner Untergrund zur Parabel einer multikulturellen Identitätskrise
Orpheus, Dosenbier trinkend, mit Leckerjacke und E-Gitarre, sucht seine Euridice im Münchner Untergrund, genauer in der Tristesse der Münchner Unterführung des Maximilians-Forums, über das in der Oberwelt der Straßenverkehr hinwegfegt. Wenige Meter entfernt vom Münchner Luxusboulevard und der Staatsoper gelingt im Untergrund im kleinen Rahmen mit ganz wenig Aufwand ein beeindruckendes Opernexperiment: Glucks „Orphée“ in der Pariser Fassung von (1774) als Ausdruck multikulturelle Identifikationskrise 2014.
Vor und hinter einer ellenlangen Glasfront spielt sich das Geschehen in betonierter Nüchternheit mit Schwimmbadfliesencharme ab. Passanten unterschiedlichen Couleurs hetzen vorbei, exotisch mitten drin ein Barockpaar wie aus Münchens fünfter Jahreszeit. Außen- und Innenwelten, unterschiedliche Zeitebenen prallen simultan an der Glaswand aufeinander, geflutet in grelles Strahlerlicht. Assoziationen zu Cocteaus Film „Orphée“ (1950) werden wach, dennoch entsteht hier etwas völlig Eigenständiges.
Regisseur Andreas Wiedermanns Inszenierung tauscht poetische Verfremdung gegen knallharten Realismus, weitet den Orphée-Mythos zum Sozialdrama einer multikulturellen Gesellschaft, authentisch durch die internationale Herkunft der Sänger und Tänzer und deren temperamentvolle Aura. Junge Hochschulabsolventen Derek Rue, gebürtiger Kalifornier, und Danae Kontora, Griechin, singen die Titelrollen verstärkt durch die Wahnsinnsakustik, mehr fordernd als lyrisch, aufrüttelnd statt schmeichelnd. Rau klingt Derek Rues kräftiger Tenor. Die Koloraturen haken, was nicht stört, zum Milieu passt. Selbst in den innigsten Liebesduetten, in denen Danae-Kontoras Talent hörbar wird, schafft das Forte Distanz. Es geht nicht um Glucks Wohlklang, es geht um darum, was aus dem antiken Mythos heute geworden ist. „He lost his love“ schreibt Orphée plakativ auf die Glaswand, vergeigt diese Liebe durch eine andere. Vorbei ist der Mythos vom lebenslangen Beziehungsumfeld.
Euridice liegt in der Intensivstation. Orphée wartet ungeduldig. Was ist passiert? Renan Martins de Oliveira (Brasilien) und Manual Fiori Schneider (Brasilien) machen unter der Choreographie von Ceren Oran (Türkei) als deren Alter Ego jenseits der Glasscheibe im Tanz die psychischen Verwicklungen sichtbar. Der klassische Beginn wandelt sich schnell in aggressiv erotische Tanzbewegungen mit langen Laufstrecken, wirbelnden Pas de deux, unterbrochen durch verharrende Doppelpositionen diagonal zu den Sängern. Im Tanz offeriert sich Orphées Liebe zu einer Blondine, raffiniert als Doppelrolle Amours angelegt. Surreal wie in einem Traum pumpt Orphée im Tanz das Mädchen im Krankenbett orgiastisch hoch, gleichzeitig Symbol kultureller Integration, die unerreichbar bleibt. Stattdessen verliert er mit Euridice, die sich wegen des Treuebruchs zutiefst verletzt mit einer Überdosis Drogen betäubt, seine ureigenste Heimat. Als Euridice in der U-Bahn umkippt, rennen die Passanten konsterniert vorbei. Der Rettungseinsatz ist vergeblich: Exitus.
In kleiner Besetzung, zwei Violinen, Vilas, Cello, Kontrabass, Oboe entfaltet sich unter der musikalischen Leitung von Ernst Bartmann Glucks musikalische Dramatik mit rockigen Facetten. Die Laute wird durch E-Gitarre ersetzt und als Amour darf Vanessa Fasoli ihr Können nicht nur im klassischen Fach, sondern auch durch eine Songinterpretin aus der Feder Ernst Bartmanns unter Beweis stellen.
Omnipräsent ist der Chor, stimmgewaltig, aber nicht immer ganz präzise. Er übernimmt die Statisterie, tanzt mit, formiert sich in rivalisierende Gangs, sammelt sich zu Orphées Fangemeinde, die das tänzerische Alter Ego immer wieder wie ein Siegessymbol heroisch auf Händen herumträgt. Und doch gibt es kein barockes Happy-End à la Gluck. Amour rockt seinen Song auf Englisch vom Leben der zwei Wahrheiten, von der Liebe und dem Verlassenwerden, das immer gleich endet. Faszinierend gleitet der Song in den Glucks Musik, die sich atonal verliert und im Sprechgewirr des Untergrunds übergeht.
Mit außergewöhnlichen Orten schuf sich Oper incognita eine Insider-Fangemeinde. Nur ca. 200 Zuschauer können live dabei sein. 2006 begann der Siegeszug mit Glucks „Armida“ in einer Reaktorhalle. Benjamins Brittens „Turn of the Screw“ im Müllerschen Schwimmbad im vergangenen schien nicht mehr zu toppen zu sein. Falsch. Glucks „Orphée“ in der Münchner Unterwelt hat nicht minder Kultcharakter: eine gelungene Symbiose zwischen Kunst und Realität, zitierten Mythos und erlebter Gegenwart.