Foto: Der Politikerkrieg auf der Merkellburg in der Inszenierung von Florian Lutz: Tim Stolte (Reinmar von Zweter), Hjongseok Lee (Heinrich der Schreiber), Taras Konoshchenko (Biterolf), Daniel Jenz (Walther von der Vogelweide), Shavleg Armasi (Hermann, Landgraf von Thüringen), Carla Filipcic Holm (Elisabeth, Nichte des Landgrafen), Herbert Lippert (Tannhäuser).
© Jochen Quast
Text:Detlef Brandenburg, am 1. September 2014
Werden sie wirklich mitmachen? Statt dass aus dem Halbdunkel des Orchestergrabens weihevoll der Bläserchoral emporsteigt, erscheinen auf der helllichten Bühne des Lübecker Opernhauses vier adrette Damen mit Hostessen-Lächeln und eröffnen uns, dass wir alle hier seien, um uns über Wagners „Tannhäuser“ auseinanderzusetzen. So so. Und weil es dazu wichtig sei, Wagners Musik ganz aus sich selbst heraus zu empfinden, wollen wir doch als Erstes mal gemeinsam den Pilgerchor singen. Oha. Aber siehe da: Es erscheint ein Prospekt mit Text und Noten, die vier Damen intonieren den Chorsatz professionell, animieren charmant und dirigieren energisch, und statt zu murren, summt und brummt es um mich herum nach zaghaftem Beginn bald sehr traulich. Die „vierte Wand“ ist durchbrochen, das Publikum als Mitspieler ohne Gage ist gewonnen.
Am Ende aber ist es dann vorbei mit der schönen Zweieinigkeit von Bühnenwelt und Publikum. Da ist, was als animierende Mitmach-Show begonnen hatte, in eine provozierende Parabel auf Merkel-Deutschland und seine Alternativlos-Politik umgeschlagen, und es rumort heftig im Publikum. Florian Lutz, unter den jungen Opernregisseuren einer der umstürzlerischsten, aber auch der originellsten und begabtesten, hatte offenbar gleich zwei grundlegende Ideen für seine Inszenierung. Wie sie zusammenpassen, ist die Frage.
Zunächst einmal gibt er sich alle Mühe, uns den Kopf darüber zu verwirren, wo denn nun die Bühne aufhört und der Zuschauerraum anfängt. Letztere, entworfen von Christoph Ernst, zeigt ein Spiegelbild des Ersteren. Auf den Bühnen-„Rängen“ sitzen tatsächlich echte Zuschauer, die eigens für diese „Erlebnisplätze“ angeheuert wurden. Und Andrea Stadel, Imke Looft, Frauke Becker und Annette Hörle, die vier blendend agierenden Moderatorinnen (beim Sängerwettstreit werden sie dann die vier Edelknaben singen), stellen uns in Video-Interviews Zuschauer vor, die vor Beginn der Vorstellung nach der wichtigsten Sünde unserer Zeit befragt worden waren. Als die dann aber alle fünf auf die Bühne gebeten werden, um dort den genannten Sünden zu frönen – da ist man sich nicht mehr ganz so sicher, wer hier Laie ist und wer Profi. Eine Köchin verführt zur Völlerei, ein Barkeeper zum Alkoholgenuss, ein Croupier zum Geldverprassen, eine Friseuse frönt der Eitelkeit, und „Nathalie“ bittet zum Poledance-Stripp und zieht ihr Programm bis auf die nackte Haut durch, in engem Kontakt zu ihrem allerdings vollständig bekleideten Partner. Man zweifelt, ob der wirklich ein ganz normaler Zuschauer ist. Und wundert sich umso mehr, wenn man in der Pause erfährt, er sei einer der wichtigsten privaten Geldgeber des Lübecker Theaters, der sich hier als Laienstatist verdingt – und natürlich vorher wusste, worauf er sich freuen durfte. Eine ganz neue Form der Sponsorenpflege!
Das also ist der Venusberg. Und genau in dem Moment, als man sich fragt, ob Florian Lutz uns denn wirklich weismachen will, dass diese „Sünden“ heute noch zur gesellschaftlichen Verdammnis führen, schlagen die Videos, die das Bühnentreiben um Venus und Tannhäuser herum begleiten, ins Unbehagliche um: Der Poledance wird durch Bilder von Kinderprostitution konterkariert, die Völlerei durch brutale Massentierhaltung, die Eitelkeit durch die Tierversuche und den Plastikmüll der Kosmetikindustrie, Alkoholmissbrauch, Drogen, Börsenzockerei, Armutselend – und man kapiert, dass hinter den lässlichen Sünden des gehobenen gesellschaftlichen Lebenswandels hässliche Konsequenzen stecken.
Tannhäuser erscheint zunächst genau als ein solcher gehoben lebenswandelnder Schickeria-Salonlöwe im weißen Dinnerjacket mit Venus als Lady in edler Silberrobe (Kostüme: Mechthild Feuerstein). Aber er ist in dieser Inszenierung derjenige, der den Zusammenhang von luxuriösem Lifestyle und sozialem Leid schließlich durchschaut und deshalb aus der in diesem Sinne „sündigen“ Gesellschaft des Venusberges flieht. Allerdings kommt er vom Regen in die Traufe. Denn die Wartburg-Gesellschaft unterscheidet sich vom Venusberg lediglich dadurch, dass sie „Sünde“ durch politische Korrektheit kaschiert. Die Animierdamen avisieren die Pilger als „das Bild des Menschen, das wir sehen wollen“, die Pilger selbst erinnern teils an reuige Ballermann-Sünder oder Manager, die nun T-Shirts mit Gutmenschen-Slogans tragen: Change now, Gegen Fracking, Men against Sexism … Und aus den Wartburg-Rittern sind allzu bekannte politische Selbstdarsteller geworden: Walther von der Vogelweide wuselt als Hans Christian Ströbele mit Fahrrad, Biterolf tut sich als Frank-Walter Steinmeier wichtig, Reinmar von Zweter gockelt als Guido Westerwelle herum, Heinrich der Schreiber gibt den geleckten Sigmar Gabriel, Wolfram kurvt als Wolfgang Schäuble im Rollstuhl über die Bühne, der Landgraf dürfte Bundespräsident Joachim Gauck sein. Und Elisabeth ist – Angela Merkel.
Damit ist das Terrain für die blanke Politsatire bereitet: Elisabeth mutiert durch ihre Himmelfahrts-Verklärung zur Rauten-Angie-Karikatur, die mit demonstrativ solidarischem Händedruck einen nach dem anderen abserviert und schließlich auch Tannhäuser ihrer politischen Gleichschaltungs-Räson einverleibt. Der gescheiterte Erlöser wird zum rückfälligen Säufer, Firmenlogos deutscher Großkonzerne hängen als Leitsterne am Himmel der alternativlosen Merkelwelt, und per Projektion flimmern Fragen über den blauen Vorhang: „Welche politische Konsequenz hat das Ihrer Ansicht nach?“ „Gibt es Erlösung?“ „Auf welches Wunder warten Sie?“
Das ist teils intelligent, frech und treffsicher, teils auch daneben, aber es diskutiert die im Stück verhandelten Fragen. Allerdings steht sich die mutige Inszenierung an zwei Punkten selbst im Weg: Sie hält den anfangs behaupteten partizipativen Ansatz nicht durch, denn je mehr sie sich in die politische Satire verbeißt, um so stabiler richtet sie die „vierte Wand“ wieder auf. Außerdem fuhrwerkt Lutz ebenso unmotiviert wie unsensibel in die Musik hinein. Dass Wolfram in seinem Lied an den Abendstern das bewusste Mercedes-Logo ansingt, ist noch absolut legitim in einem Konzept, das zeigen will, dass hinter der Sachzwang-Rhetorik der Merkel-Politik ideologisch verbrämte wirtschaftliche Interessen stehen. Aber darum muss Wolframs vorhergehender wunderbarer Monolog nicht durch das Türengeklapper zerstört werden, mit dem die Moderatorinnen die Pilger einlassen. Zuvor wirkte bereits die Abfallsack-Schlacht beim Sängerkrieges einfach nur läppisch, ein aufdringlicher Gag.
Dass das musikalische Geschehen unter dem Lübecker Generalmusikdirektor Ryusuke Numajiri auch rhythmisch bisweilen in erhebliche Turbulenzen gerät, macht die Sache nicht besser. Numajiri dirigiert schöne Stellen, kraftvoll auftrumpfende ebenso wie lyrisch verinnerlichte, aber sie bleiben Episoden, weil die Musik – auch aufgrund der szenischen „Übermalungen“ – kaum einmal zum großen Bogen findet. Leider bekommt auch der Tannhäuser von Herbert Lippert kein überzeugendes Profil: Ausgerechnet hier, bei der Hauptfigur, versagt Florian Lutz’ sonst so direkte satirische Parallelisierung von Opernfigur und politischer Gegenwart. Und vokal ist Lippert mit der Partie überfordert, attackiert unsicher, forciert das Forte blechern, bleibt im Piano belegt. Beachtlich dagegen Carla Filipcic Holms sehr dramatische, in der „Hallenarie“ zunächst etwas forciert wirkende Elisabeth mit strahlend tragendem Timbre, die zunehmend auch die nötige Entspanntheit für ihre lyrischen Passagen findet. Auch Julia Faylenbogens Venus wirkt bei der Premiere manchmal zu forciert, beeindruckt sonst aber mit vollem, sinnlich schimmerndem Timbre. Gerard Quinn ist ein charaktervoller, im dritten Aufzug dann sehr ausdrucksvoll gebrochener Wolfram, Shavleg Armasi ein klar fokussierter Landgraf mit markanter Diktion, Daniel Jenz ein lyrisch schlanker Walther.
Das Premierenpublikum feiert das Ensemble, beim Erscheinen des Regieteams liefern sich Begeisterung und Empörung eine dröhnende Buh-Bravo-Schlacht. Für beides gibt es Gründe. Für mich war es trotz aller Einwände eine anregende und wohltuend freche „Tannhäuser“-Inszenierung. Dass sie in den Pausen und nach dem letzten Vorhang heftige Diskussionen auslöste, spricht gewiss nicht gegen sie.