Foto: Ensembleszene aus "36566 Tage" © Salzburger Festspiele / Bernhard Müller
Text:Anne Fritsch, am 11. August 2014
Es ist ein Riesenprojekt, das Dokumentartheatermacher Hans-Werner Kroesinger im Rahmen des Young Directors Project der Salzburger Festspiele auf die Beine gestellt hat. So riesig, dass er es allein niemals hätte bewältigen können. Also schnappte er sich die Studierenden des Mozarteums, um ein fächerübergreifendes Rechercheprojekt mit ihnen zu erarbeiten: „36566 Tage“.
So viel Zeit ist am Premierenabend seit dem Attentat in Sarajevo vergangen, das den Anfang des Ersten Weltkrieges markiert. Die Studenten der Fachbereiche Regie, Schauspiel, Bühnenbild und Komposition begannen vor eineinhalb Jahren zu recherchieren: Sie durchstöberten die Salzburger Chronik, Archive und 100 Jahre alte Dokumente, sprachen mit Nachgeborenen. Einer reiste für seine Forschungen gar bis nach Istanbul. Da erstaunt es nicht, dass das gesammelte Material wahrscheinlich zehn Theaterabende gefüllt hätte. Auch wenn keine der erarbeiteten Szenen und Installationen mehr als 30 Minuten Zeit in Anspruch nehmen durfte: Die 17 Mini-Produktionen sprengen einen Theaterabend. Was nun? Das Publikum bekommt am Einlass verschieden farbige Armbändchen und wird in kleinen Gruppen von Station zu Station dieses „emotionalen Erfahrungsraumes“ geführt.
„Sie werden nicht alles sehen können“, verkündet ein Student im Prolog. Und dann werden die einzelnen Gruppen „eingezogen“, werden von Studenten in die ehemalige Franz-Joseph-Kaserne geführt, die nun die Universität beheimatet. Dort geht es treppauf treppab von einem Event zum nächsten. Wolf Danny Homann hat sich die Frage gestellt, wie und ob man vom Krieg erzählen kann, was im Gedächtnis bleibt von der Flut an Bildern und Nachrichten – und was ganz schnell wieder vergessen wird. Valentin Baumeister, Kathrin Herrn, Adrienne Lejko und Vassilissa Reznikoff haben eine Rauminstallation mit dem Titel „Sternstunden“ geschaffen: In einem nachtdunklen Raum haben sie den Sternenhimmel über Salzburg am 28. Juli 1914, dem Tag der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung, rekonstruiert. Während man im Dunklen in die kleinen Lichter schaut und sich ein Gefühl von Unendlichkeit breitmacht, hört man vom Band die Gedanken, Träume und Wünsche von Zeitzeugen. Momentaufnahmen aus dem Leben dieser Menschen, die viel ahnten, sich den Schrecken, der kommen sollte, jedoch nicht vorstellen konnten. Dann gibt es eine lustig-sportlich-actionreiche Fußballperformance mit ernstem Ausgang: Denn der erste Salzburger Fußballverein, gegründet 1914, wurde schon nach einem einzigen Spiel gegen Traunstein wieder aufgelöst. Aus den Spielern wurden Soldaten, vom Fußballplatz ging es zum Schlachtfeld. Sylvia I. Haering tritt in einen musikalischen Dialog mit Otto Rippl, einem Komponisten, der zu Kriegsausbruch in Salzburg lebte.
Der Zuschauer sieht gerade mal die Hälfte aller Szenen. Um alles zu erleben, müsste man mindestens zweimal kommen. Aber das Bruchstückhafte ist Konzept an diesem Abend – und so muss man ihn nehmen, wie man ihn serviert bekommt. Auch wenn das Gefühl, vielleicht das Beste verpasst zu haben, bleibt. Im Programmheft sind alle Szenen beschrieben: Manch eine, die einen ganz besonders interessiert hätte, bleibt anderen Gruppen vorbehalten. Von den Szenen, die sich mit dem wirklichen Kriegsgeschehen beschäftigen, mit Front, Schützengraben und Gefangenenlagern, sieht meine Gruppe beispielsweise keine. Uns sind die harmloseren Teile vorbehalten. Das ist schade. Die einzelnen Teile setzen sich dennoch wie Puzzleteilchen zu einem Panoptikum einer Zeit zusammen. Zeigen, was der Krieg mit den Menschen machte – und noch immer macht.
Man verlässt dieses Projekt nach guten vier Stunden, ohne sich einmal gelangweilt zu haben. Der Charme dieses Abends liegt in seiner Vielfalt, an den vielen Ansätzen und Herangehensweisen, die so unterschiedlich sind wie die Studenten, die sie erarbeitet haben. Denn auch wenn die Qualität des Gezeigten naturgemäß variiert, verhindert die zeitliche Beschränkung, dass Unmut aufkommt. Schon wird man weitergeführt ins nächste Abenteuer. Man geht mit dem schönen Gefühl, ein echtes Stück Teamwork erlebt zu haben. Hier hat nicht jeder einzeln in seinem Kämmerchen vor sich hin recherchiert, hier haben sich Kollegen interessiert ausgetauscht, die Eigenleistung des Einzelnen respektiert, ohne das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Allein das verdient großen Respekt. Genau wie das nicht neue, aber wie die Kriege unserer Zeit zeigen, für immer wichtige Fazit: „Ohne Gedächtnis gäbe es keine Erinnerung.“ Dieser Abend ist ein Stück aktives Erinnern. Ein Versuch gegen den Krieg.