Foto: C. Gerhaher (Orfeo) und die Zürcher Singakademie © L'Orfeo
Text:Klaus Kalchschmid, am 22. Juli 2014
Man weiß es und ist doch immer wieder überrascht, nicht zuletzt im Rahmen eines großen Opern-Festivals: Was für ein geradezu zeitloses Meisterwerk ist Claudio Monteverdis „L’Orfeo“. Er steht nicht nur am Beginn des Musiktheaters vor 400 Jahren, sondern scheint erstmals idealtypisch auszuprägen, was alles danach kommt: Rezitativ, Arioso und Arie, Tänze und Chöre, selbst dramatische Entwicklungen und eine farbige Instrumentation gibt es hier bereits; und immer wieder eine Chromatik und Unbedingtheit des Ausdrucks, wie sie für heutige Ohren ungeheuer modern erscheint, auch wenn es ein gängiges musikalisches Mittel der Zeit um 1600 war.
Im hochgefahrenen Orchestergraben des Münchner Prinzregententheaters spielt das „Monteverdi-Continuo-Ensemble und Mitglieder des Bayerischen Staatsorchesters“ aber auch unter Ivor Bolton mit einer solchen Leuchtkraft, schillernden Farbigkeit und einem derart selbstverständlich wechselnden Ausdruck, dass es eine helle Freude ist. Auf der (Einheits-)Bühne herrscht nicht minder große Leichtigkeit, auch wenn sie wie immer bei Patrick Bannwart faszinierend schwarz-grau verdüstert ist. David Bösch inszeniert darin einen seiner kindlich verspielten Alpträume wie schon bei und für Mozarts Frühwerk „Mitridate“ am gleichen Ort vor ein paar Jahren.
Nun also die Geschichte vom Sänger Orpheus und dem doppelten Verlust seiner geliebten Eurydike, die als heiteres Spiel einer Flower-Power-Truppe (herrlich ausgelassen agierend: die Zürcher Sing-Akademie) im alten silbergrau verwunschenen VW-Bus beginnt: JUST MARRIED 20-7-1974, erfahren wir! Auch später – in der Unterwelt – ist Hollywoods Fantasy-Welt nicht weit: Charon (Andrea Mastroni) erscheint als furchterregender Macho mit langen, zotteligen Haaren, Pluto (Andrew Harris) ist ein ganzkörperbehaarter Zottel im weißen Trägerunterhemd und selbst Apoll (Mauro Peter) tritt als ungewaschener Clochard auf, fest eingehüllt in (Winter-)Mantel und Mütze (Kostüme: Falko Herold). Ganz anders die großartige Anna Bonitatibus im strahlenden Sternenkleid als Proserpina – und zuvor als schon düster raunende Messagiera.
Die schönen, überlebensgroßen Margeriten, die gleich zu Beginn beim Auftritt von „La Musica“ (später auch „Speranza“: Angela Brower mit wunderbar schlankem Mezzo) aus der Erde schossen, wachsen bei Orpheus‘ Gang in die Unterwelt in den Himmel und alien-artige Wesen sinken kopfüber aus dem Schnürboden, deren Augen geisterhaft zu leuchten beginnen, wenn Orpheus sich verbotenerweise nach seiner Eurydike umdreht. Christian Gerhaher ist dieser thrakische Sänger und er singt ihn wie aus der Zeit gefallen: mal lyrisch wie in einem Lied, mal enorm dramatisch im großen, schmerzvollen Ausbruch und irgendwie immer ein Fremdkörper in der Menschenwelt. Am Ende hat er sich die Pulsadern aufgeschnitten und imaginiert noch einmal die ausgelassene Hochzeit mit seiner geliebten Eurydike (hell strahlend: Anna Virovlansky), bevor er sich gleich danach mit ihr in das frisch ausgehobene Grab legt, das den ganzen Abend im Zentrum klaffte.