Foto: Kammersänger Konstantin Gorny (Boris Godunow) © Falk von Traubenberg
Text:Eckehard Uhlig, am 21. Juli 2014
Die Inszenierung legt Distanz zwischen Bühne und Publikum, die Stimmung bleibt befremdlich, bedrückend und düster. Modest Mussorgskys Oper „Boris Godunow“, die am Badischen Staatstheater Karlsruhe in der von Regisseur David Hermann eingerichteten Urfassung Premiere feierte, bietet keine Erlösungs-Utopie, sondern zeigt das unauflösbar auswegslose, inhumane Beziehungsgeflecht von Herrschaft, korrumpierter Macht und Unterdrückung.
Nichts ist zu sehen von dem religiös überhöhten Krönungs-Pomp russischer Zaren in prunkenden orthodoxen Kathedralen – wenig vom Leiden und der Zaren-Mystik des Volkes. Die jeweils nur mit sparsamen Requisiten (Tische und Stühle) bestückte, schwarz-dunkel ausgekleidete Bühne wird von einer nach hinten und seitlich abkippbaren Dachkonstruktion abgeschlossen, die an eine mit weißen Rigips-Platten abgehängte Decke erinnert (Ausstattung Christof Hetzer). Symptomatisch die „Einkleidung“ des neuen Zaren Boris: Fast nackt steht er mittig an der Bühnenrampe. Von rechts und links stöckeln stumme Sekretärinnen in grünlich schimmernden Etui-Kleidchen herbei und hängen ihm den Ornat aus Flittergold um. Abseits seine Berater, darunter Duma-Schreiber Schtschelkalow (Gabriel Urrutia Benet) und der hinterhältige Schujski (Matthias Wohlbrecht), die in Anzügen mit Schlips und weißen Hemdkragen wie bürokratische Mafiosi aussehen. Statt des prachtvollen Glockengeläuts ertönt klägliches Glöckchen-Gebimmel. Das Volk bleibt fernab als statuarische Masse im Hintergrund. Die Bojaren (Fürsten) gerieren sich in Jeans und Alltagsjacken wie der örtliche Gewerbeverein bei der Stammtisch-Runde. Regie-Fisimatenten toben sich im 4.Bild aus, in der „Schänke an der litauischen Grenze“: Die Wirtin (Stefanie Schaeffer) und die beiden Bettelmönche (Lucia Lucas und Max Friedrich Schäffer) sind Tschernobyl-Geschädigte, verunstaltete und wie Automaten-Puppen sich hopsend bewegende Monster, die ihre herausgedrückten Augen, Wasserköpfe, Penis-Nasen und schief aufgequollenen Hüften lustig zur Schau tragen. Im Dunkeln sitzt auch noch mit Schießerripp-Höschen unter dem geöffneten Militärmantel der in Russland vernichtend geschlagene Napoleon. Ironische Verfremdung?
Konstantin Gorny singt kraftvoll als Godunow mit herrlich schwarzem, eines Zaren würdigem Bass. Geschmeidig weich sein Monolog „Skorbit dusa“ (Meine Seele ist traurig), zärtlich seine Ansprache von Sohn Fjodor (Dilara Bastar) und Tochter Xenia (Larissa Wäspy), herrisch, zuweilen auch angstvoll bebend seine Worte der Macht. Aber Spiel und Gesten bleiben geschäftig an der Oberfläche, lassen kaum etwas von seiner Melancholie, von Schuld- und Untergangs-Phantasien spüren. Ein großartiger Sänger-Darsteller mit sattem Bass ist Avtandil Kaspeli als Pimen – der Mönch, der im Kloster-Skriptorium an der Chronik russischer Zaren schreibt und auch Godunows Verstrickung in die Ermordung des legitimen Zarewitsch (Kronprinzen) dokumentiert. Hier kommt Pimens junger Mönchsbruder Grigori (Andrea Shin) auf die Idee, als auferstandener (falscher) Zarewitsch dem zaudernden Mörder den Zarenthron streitig zu machen: die eindrucksvollste Szene des Abends.
In originellem Habitus tritt die Figur des „Gottesnarren“ (Hofnarren) auf. Hans-Jörg Weinschenk scheint ein mythischer Homunkulus. Zusammengesetzt aus antiker Götterskulptur, New Yorker Freiheitsstatue und dornenbekröntem Christus, agiert er mit tenoral närrischen Liedchen sowohl in den Umbaupausen vor dem Bühnenvorhang als auch in der Rolle des Kronzeugen während Godunows Macht- und Götterdämmerung.
Obwohl man die russische Seele auch bei ihnen nicht findet, begleiten die Chöre das dramatische Geschehen mit durchschlagender vokaler Wucht. Bravourös löst Kapellmeister Johannes Willig seine Aufgabe am Pult der Badischen Staatskapelle. Die schrundig rauhe Musikalität der Chor- und Orchester-Sätze, ihre Ab- und Umbrüche, ihre lyrischen Linien oder lärmenden (Tuba-)Einwürfe sind bei ihm in besten Händen.