Foto: Szene aus "Kinder des Olymp" von Jacques Prévert © Jürgen Weller
Text:Anne Fritsch, am 11. Juli 2014
Der rote Vorhang öffnet sich – und der Zuschauer taucht ein in die Welt des „Théâtre des Funambules“, ins Paris des 19. Jahrhunderts. Ein Akkordeon- und ein Klarinettenspieler musizieren, ein Stelzenläufer kündigt in schwindelnder Höhe das Programm an, ein Frosch, ein Löwe und andere merkwürdige Gestalten tummeln sich auf den Brettern, die diese kleine Welt bedeuten. Jochen Schölch inszeniert „Kinder des Olymp“ nach dem Drehbuch von Jacques Prévert im Münchner Metropoltheater (eine Koproduktion mit den Freilichtspielen Schwäbisch Hall) – und es gelingt ihm, auf kleinstem Raum die flirrende Atmosphäre des Originals, das tosende Leben der Schauspieler und Gaukler einzufangen. Der Vorhang und die Bretter, das ist das Bühnenbild, das Thomas Flach für diesen Abend entworfen hat. Es ist so einfach wie genial: Mal wird das Publikum zu den Theaterbesuchern, sieht die Vorstellungen der Künstler. Dann wieder sieht es die Auftritte quasi von hinten, blickt hinter die Kulissen und in die Garderoben. Vor dem Vorhang ist hinter dem Vorhang. Das Theater ist das Leben, das Leben ein Theater.
Marcel Carné drehte seinen Film „Kinder des Olymp“ 1943-45 im von den Deutschen besetzten Paris. Mit möglichst vielen Statisten und möglichst langen Drehzeiten, um so viele Künstler wie möglich vor einer Rekrutierung als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu bewahren. Der titelgebende Olymp, der höchste Rang im Theater, ist in Wahrheit denen vorbehalten, die sich die teureren Plätze nicht leisten können – von ihnen erzählt dieser Film, ihnen ist er gewidmet. Es ist eine Geschichte der Gaukler, der Schauspieler, Lebenskünstler und Ganoven. Einer flirrenden und flatternden Welt voll gelebter und ungelebter Träume. Und es ist die Geschichte einer Liebe, die so tief wie unerreichbar ist. Der Liebe zwischen dem in sich gekehrten Pantomimen Baptiste und der schönen Garance, die von allen Männern begehrt wird – und sich gerne begehren lässt. Für Baptiste aber ist die Liebe kein leichtes Spiel, die beiden verlieren sich, bevor sie sich wirklich gefunden haben. Garance schwirrt von einem Mann zum anderen, bis sie schließlich merkt, dass der stille Baptiste derjenige ist, von dem sie jede Nacht träumt. Als sie zu ihm zurückkehrt, ist es zu spät: Baptiste hat mit Nathalie eine Familie gegründet. Eine Nacht verbringen die beiden zusammen. Nathalie entdeckt die beiden, Garance verschwindet im Gewühl des Karnevals.
„Kinder des Olymp“ ist ein Film über das Theater. Ein Film, der die Vorsilbe „Kult-“ verdient hat. Schölch holt ihn ins Theater, setzt ein weiteres Mal auf minimale Ausstattung und maximale Schauspielerkunst und zaubert den Flair des Pariser Künstlerlebens auf seine leere Bühne. Ein paar Laken verwandeln die Bühne in die Pension der Madame Hermine; ein geraffter Vorhang zaubert eine Loge herbei; auf einer imaginierten Theke abgestützte Ellenbogen – und schon befindet man sich in der Rotkehlchen-Bar, wo man sich bei Tanz und Mordgedanken sein Leben ein wenig schöner trinkt.
Philipp Moschitz spielt den Baptiste, diesen melancholischen Pantomimen, der die Menschen nicht zum Lachen bringen, sondern sie rühren will. Wie er den Taschendiebstahl einer goldenen Uhr als Ein-Mann-Show nachspielt, beeindruckt nicht nur Garance, die ihm eine Blume zuwirft, die sein Leben verändern wird: Er verliebt sich in die schöne Fremde, wird sie lieben für immer. Schölch versteht es meisterhaft, zwischen Ernst und Komik zu wechseln, ohne dass das Eine dem Anderen Abbruch tut. Wo Moschitz für den Ernst zuständig ist, ist Butz Buse es für die Komik. Er spielt unter anderem die alte lüsterne Zimmerwirtin Madame Hermine, dass es eine wahre Freude ist. Im monströsen Nacktanzug, den ihr Morgenmantel nur unzulänglich bedeckt, macht sie sich an ihre Zimmergäste ran, so gut es ihr Rheumatismus eben zulässt. Das ist irre komisch, doch Buse spielt seine Figur mit einer Zärtlichkeit, die sie nie der Lächerlichkeit preisgibt.
Auch wenn das kühle Regenwetter die Münchner Premiere aus dem romantischen Garten in den Theaterraum zwingt: Hier ist alles aus einem Guss, die leichte Surrealität, die über vielen Szenen liegt, verleiht diesem Abend einen ganz eigenen Flair. Was man hier zu sehen kriegt, ist ganz großes Kino. Nein: Theater!