Foto: Ensembleszene aus "Doll songs" von Douglas Lee © Bettina Stöß
Text:Dieter Stoll, am 7. Juli 2014
Zur Verbeugung nach der zweiten Uraufführung dieses unter dem Titel „Made for us“ zusammengefassten Auftrags-Abends kam es zu einem herrlich albernen und dann doch irgendwie vielsagenden Zwischenfall: Als der seit 2005 weltweit Spuren setzende Choreograph Cayetano Soto, zuständig für das Stück „Mirrored“ (Gespiegelt) vom Applaus zur zweiten Verbeugung gerufen wurde, zerrte er lachend den verblüfft widerstrebenden Nürnberger Ballettdirektor Goyo Montero (übrigens beide 1975 in Spanien geboren) aus der Nullgasse mit an die Rampe. Er war schnell wieder verschwunden, aber zur Einordnung der Premiere passte das Intermezzo durchaus. Denn mit dem Doppel, zu dem der Brite Douglas Lee zuvor die traumbildnerischen „Doll Songs“ beisteuerte, ist die ganze Sparte über eine letzte Hürde ins Unendliche gesprungen. Eine Compagnie, die im Montero-Stil das Publikum eroberte, in der ersten Erweiterungsphase die Größen der nachreifenden Moderne souverän bewältigte, hat nun keinerlei Problem mit der unausgesprochenen Hausmarke „Avantgarde plus“ bei der Kreation neuer Bewegungs-Art unter der Herausforderung zweier ganz anderer Tanz-Poeten. Das ist der eigentliche Erfolg, und der gehört auch dem Sparten-Chef.
Zunächst fällt freilich die atmosphärische Nähe zwischen Monteros „Melancholia“ im Repertoire und den neuen „Doll Songs“ von Douglas Lee auf. Hier wie dort sind Momente des Unterbewusstseins mit Licht-Reflexen gerahmt, wird im Schattenriss die Kontur der Realität gesucht. Doch der ehemalige Stuttgarter Solotänzer gibt sich nicht dem Schmerz hin, er fordert mit vier Tänzerinnen und drei Tänzern die Dämonen zur Spielstunde heraus. Im wandelbaren Raum aus Podesten, Wänden und Vitrinen – einem Museums-Ausstellungsraum im Umbau ähnlich – entstehen die immer wieder von Dunkelheit aufgefressenen Bilder aus Alb- und Tagträumen. Slowmotion trifft auf hyperaktiven Spitzentanz, Breakdance-Andeutungen münden in erweiterte Pas de deux-Verschlingungen. Man schreitet und springt an Episoden-Miniaturen entlang, umspült von einem Sound-Tableau aus Werken von vier Komponisten, deren Klänge auf einem Basis- Wiegenlied sprießen. Die Story, die man anfangs vermutet, entsteht dabei jedoch nicht, da darf der Zuschauer selber am roten Faden spinnen, während vom Kopf auf die Beine gestellte Gedanken im Irgendwo entschwinden. Vielleicht ist Lee mit seinen „Doll Songs“ einfach noch nicht fertig.
Cayetano Sotos „Mirrored“ ist der stärkere Teil von „Made for us“, was auch am Stück, aber wesentlich an seiner Arbeitsweise liegt. Der Choreograph hat die Bühne bis zur Brandmauer aufgerissen und einen Studio-Arbeitsplatz (er selbst nennt es „Tanzboden“) in die Weite gepflanzt. Spiegel gibt es in dieser Szene nicht, nur lebendige Spiegelungen. Die Verzerrung von Wahrnehmung wird körperlich, die raumteilenden Scheinwerfer-Batterien rücken bedrohlich an die Figuren heran, entwinden ihnen zeitweise ihre Eigenständigkeit. Die Minimal Music von Philip Glass, als Trend-Sound früherer Jahre nur scheinbar abgenutzt, tankt mit ihrer akustischen Endlosschleifen-Energie die Bilder auf. Denen ist anzusehen, wie lustvoll Sotos seine Phantasie an den reichlich vorhandenen Talenten der Tänzer (vier Damen, vier Herren) ausrichtet, wie er den egomanischen Anspruch, das eigene Bewusstsein als reinste aller Inspirationsquellen zu nutzen, an den Partnern modifiziert. Die Fixierung des (nicht vorhandenen) Spiegels ist für Soto ein selbstgestellter Forschungsauftrag ohne Bilanz-Botschaft. Er zeigt Blicke, die oberflächlich über das Objekt der Betrachtung hinwegblinzeln und Bildkompositionen, die sich apathisch in die Dissonanz recken, ehe sie ihre Autonomie verteidigen. Ein halber Vorhang sinkt manipulierend ins allgemeine Blickfeld und hebt sich wieder hinweg. Am Ende steht die große Paar-Pose der Ballettkunst zur Disposition, wenn der Tänzer seine Ballerina nur noch kopfunter in die Höhe stemmen und dort – die Musik hat schon aufgegeben – bis zum Blackout halten kann.
Von den populären Handlungsballetten, die der Montero-Compagnie in Nürnberg den großen Durchbruch brachten, ist dieses Uraufführungs-Doppel weit entfernt. Es wurde dennoch einhellig gefeiert. Ein Versprechen für die Zukunft.