Foto: Szene aus "Footfalls/Neither" an der Staatsoper Berlin © Stephen Cummiskey
Text:Georg Kasch, am 23. Juni 2014
So viel genius loci ist selten: Am Berliner Schillertheater fand 1976 die deutsche Erstaufführung von Samuel Becketts „Footfalls“ statt. Beckett inszenierte selbst, und bei den Proben kam es zur Begegnung von Beckett und Morton Feldmann, was den Ausschlag gab zum gemeinsamen Werk „Neither“. Von dieser Begegnung hat Feldman oft berichtet: Dass er beim ersten Händedruck wegen des schlechten Lichts und seiner Kurzsichtigkeit nur Becketts Daumen erwischte und anschließend über den Vorhang stolperte, gehört längst in den Bereich der berühmten Künstler-Anekdoten.
Knapp vierzig Jahre später residiert die Berliner Staatsoper im Schillertheater, umständehalber. Intendant Jürgen Flimm versucht seit Beginn dieser immer länger währenden Interimszeit, das beste aus der Situation zu machen, indem er mit Crossoverproduktionen an den Geist des Ortes erinnert, der lange Zeit das repräsentative Sprechtheater Westberlins beherbergte. „Orpheus in der Unterwelt“ war fast durchgängig mit Schauspielern wie Hans-Michael Rehberg besetzt, in „AscheMOND“ stand Ulrich Matthes auf der Bühne, zuletzt inszenierte Nicolas Stemann hier Elfriede Jelineks „Rein Gold“ mit Schauspielern, Sängern und Staatskapelle.
Kein Projekt aber war derart mit der Geschichte des Hauses verknüpft wie „Footfalls / Neither“, dieser Beckett-Doppelabend aus Schauspiel und Oper. Wobei Musiktheater als Klammer wunderbar funktioniert, schließlich hatte Beckett „Footfalls“ (Schritte) schon nach höchst musikalischen Gesichtspunkten komponiert, erscheinen Rhythmus, Pausen und Betonung wichtiger als Psychologie. May, eine Frau in den Vierzigern, geht auf und ab, immer neun Schritte, und spricht mit ihrer bettlägerigen Mutter, die nur als Stimme präsent ist. Aus diesem Dialog spricht eine beklemmende Einsamkeit, eine Zurückgeworfenheit aufs abgeschiedene, wohl auch sinnlose Sein.
Julia Wieninger, die mit Katie Mitchell seit ihres Kölner Durchbruchs mit „Wunschkonzert“ regelmäßig zusammenarbeitet, setzt ihre Schritte wie Ausrufezeichen auf den Boden des langen Korridors, der sich unter zwei verdimmenden Lampen und zwischen zwei Türen graublau erstreckt. Sie hat auch die Stimme der Mutter eingesprochen, beides ist über Lautsprecher zu hören, was die Distanz verstärkt und, bei zunehmender Dunkelheit auf der Bühne, an ein Hörspiel erinnert. Das bleibt so lange fern und vage, bis Wieninger sich an ihren Worten zu verschlucken beginnt: Da wird das Scheitern einer ungeheuren Selbstbeherrschung spürbar, die diese Frauenfigur zu zerreißen droht.
Aus dem Un-Ort von „Footfalls“ entwickelt Mitchell übergangslos den Denk- und Erfahrungsraum für „Neither“. Becketts aus nur 87 Worten bestehendes „Libretto“ ohne Charaktere, Handlung, szenischen Impuls liest sich wie Lyrik, eine Empfindungs-Bewegung wie ein Pendel, aussichtslos. Da bleibt viel Raum für Feldmans Musik, die direkt nach den letzten Worten Wieningers einsetzt, fahle, flächige, meditative Patterns, die durchaus an Minimal Music erinnern, aber auch frei schwingen, krächzen, kratzen im ungeheuer großen Klangapparat, den François Xavier Roth ins Gespenstische hineinführt.
Bei Beckett heißt es am Ende von „Footfalls“: „Keine Spur von May.“ Auf der Bühne aber schreitet Wieninger weiter, die Rückwand hebt sich, wo Laura Aikin als Wieninger-Kopie auf- und abstapft, dahinter geht die nächste Wand hoch, bis sich der Korridor des Beginns gespenstisch versechsfacht hat. Acht Frauenfiguren gehen hier auf und ab, die Türen öffnen sich – analog zum Text – wie von Geisterhand und schließen sich, wenn die Frauen ihnen nahe kommen: „hin und her in Schatten von innerem zu äußerem Schatten / von undurchdringlichem Selbst zu undurchdringlichem Unselbst durch Weder“. Manchmal schaffen es einige auch hindurch, aber eine unsichtbare Kraft zieht sie zurück. In der graublauen Dämmerung wirkt das, als stemme sich Caspar David Friedrichs vervielfachter „Mönch am Meer“ gegen die drückende Atmosphäre.
Über allem flirrt Aikins Stimme, nahezu körper- und wortlos, man spürt mehr, als das man begreift, auch, weil die Inszenierung auf Übertitel verzichtet. Es bleiben acht Frauen in langen Gewändern, die um ihren Freiraum kämpfen und doch stecken bleiben, deren Bewegung abgezirkelt ist, begrenzt, die die Freiheit lockt, aber denen der letzte Schritt unmöglich ist. Manchmal rüttelt eine vergeblich an einer Tür. Schrecklich schön ist das, wie ja auch schon das Leiden der Frauen in anderen Arbeiten Mitchells wie „Wunschkonzert“, „Reise durch die Nacht“ und „Die gelbe Tapete“. Begriffen hat man allerdings ziemlich schnell, dass das „unaussprechliche Heim“ (so die letzten Worte) eine fiese Falle ist. Und dass Mitchells Frauenfiguren allesamt ziemlich leidensfähig sind, aber nie rebellieren, wirkt altmodischer, als Beckett und Feldman klingen.