Foto: Ensembleszene © Uwe Stratmann
Text:Annette Poppenhäger, am 16. Juni 2014
Keine byzantinische Kirche, kein sizilianisch-maurischer Palast, keine Reste eines antiken Amphitheaters. Karol Szymanowskis selten gespielte Oper „König Roger“, eigentlich im mittelalterlichen Sizilien am Hof des Normannen-Königs Roger verortet, kommt in Wuppertal ganz ohne diese historischen Bezüge aus. Chaiselongue, Hocker und Wandleuchte am rechten Bühnenrand verweisen auf den eigentlichen Ort der Handlung und zentrale Idee der Inszenierung von Regisseur Jakob Peters-Messer. Denn dieses Setting erinnert an die klassische Psychoanalyse-Situation.
1926 uraufgeführt, ist die (gedankliche) Nähe zu Sigmund Freud und seiner Erfindung der Psychoanalyse plausibel und liefert überzeugende Bilder und Begründungen für die eigentlich eher statische Mysterien-Oper. Das eineinhalb Stunden Werk besticht durch seine Tonsprache: Anklänge an Strauss und Schreker, Skrjabin und Strawinski lassen sich heraushören und doch komponierte Szymanowski in seinem unverwechselbaren Stil. Dirigent Florian Frannek und das Wuppertaler Ensemble, Chor, Extrachor und Wuppertaler Kurrende (Einstudierung: Dietrich Modersohn) bringen das glänzend zu Gehör.
Das Team mit Bühnenbildner Markus Meyer und Kostümbildner Sven Bindseil hat das ‚Seelendrama‘ beim Wort genommen und überträgt innere Vorgänge in äußere Handlungen. So wird folgerichtig der Hirte, ein selbst ernannter Prophet und großer Verführer – kraftvoll, sehr männlich und strahlend von Rafal Bartminski gesungen und gespielt – zum Alter Ego des zweifelnden Rogers (sehr überzeugend: Kay Stiefermann). Daher ähneln sich die beiden auch optisch in Größe, Statur, Frisur. Es geht um Selbsterkenntnis, entsprechend reflektiert der verspiegelte achteckige Bühnenraum Rogers Selbstbefragungen. Wie in einem Kaleidoskop erscheinen Gesichter und Figuren psychedelisch verzerrt und gebrochen. Roxanes (anrührend: Banu Böke) vergrößertes Antlitz erscheint hinter arabesken Verzierungen. Erst gegen Ende hören die optischen Verwirrspiele auf. Es ist ein Selbstfindungsprozess – zunächst verliert der König die Kontrolle über sein Volk, dann über sich selbst. Wir beobachten die Demontage eines Herrschers, die schließlich in eine Art Heilungsprozess, eine neue ‚Menschwerdung‘ mündet. Roger befreit sich von seinen quälerischen Selbstzweifeln indem er sich von seinem Alter Ego und damit seinem Trauma befreit.
Der König umarmt zunächst den Hirten, der im dritten Akt als Dionysos, der Gott des Rausches, erscheint. Doch dann stellt sich Roger hinter ihn und bricht ihm in Nahkampfmanier das Genick. Auch Edrisi, der arabische Gelehrte, der als Rogers Berater zugleich sein Psychologe war und sich wie ein Therapeut immer wieder eifrig Notizen machte, läßt ihn schließlich allein – entläßt ihn in sein neues Leben. Folgerichtig steht zum Schluß der ’neue‘ Roger ganz allein vor dem schwarzen Vorhang an der Rampe. Der C-Dur Schluß eine Art seelisches Happy End.
Es war die letzte Premiere der Wuppertaler Oper, wie wir sie bisher kannten. Denn ab Herbst wird es hier kein Ensemble und kein Repertoire mehr geben, auch auf eine Dramaturgie wird verzichtet. Dann wird die Oper unter Toshiyuki Kamioka auf Stagionebetrieb umgestellt. Die Hälfte der acht Spielplanpositionen der kommenden Saison sind Opernhits wie „Tosca“, „Don Giovanni“ und „Parsifal“. So etwas wie „König Roger“ wird es künftig nicht mehr geben können. Der Beifall für diese sehr gelungene Produktion will an diesem Abend gar nicht aufhören. Kein Happy End für die Operngänger in Wuppertal-Barmen.