Foto: Martin Berner (Graf von Nevers) und der Opernchor © Jutta Missbach
Text:Dieter Stoll, am 16. Juni 2014
Dass dies „die erste szenische Realisierung in Deutschland seit 25 Jahren“ ist, wie es das Staatstheater Nürnberg stolz meldet, stimmt annähernd und darf entschieden als verwunderlich bezeichnet werden. Denn die Berliner „Hugenotten“-Aufführung von 1991 war hochgradig spektakulär. John Dew, damals auf dem Gipfel seiner Regie-Tatkraft, hatte den Religionskrieg des Meyerbeer-Originals zum sarkastisch gespiegelten Ost/West-Konflikt mit Mauer gemacht und der verdrängten, fast vergessenen Kolossal-Oper damit auch in ihrer musikalischen Schlagkraft neue Möglichkeiten eröffnet. Wenn erst jetzt wieder, zum 150. Todestag des Komponisten, ein Theater den Griff nach dem einstigen Bestseller wagt, spricht das gegen die vorherrschende Spielplanroutine. Denn im denkbar vieldeutigsten Sinn des Wortes „großartig“, das zeigt auch diese Nürnberger Premiere trotz ihrer heftigen Brüche zumindest in der letzten der vier Stunden deutlich, ist das Stück allemal.
Zunächst schafft Regisseur Tobias Kratzer heillose Verwirrung: Kein Grafen-Schloss und kein 1572, nur ein Pariser Atelier der Gegenwart mit dem allmächtigen Künstler als Friedensstifter auf Motivsuche. Die keulenschwingenden Steinzeitmenschen, die er während der allzu passend ausfallenden Ouvertüre zu skizzieren versucht, sind ebenso Modelle wie die anschließend auf Honorarbasis in die Historienverpackung schlüpfenden Massen der Katholiken und Hugenotten. Schöpfer dieser Kunstzenen und Arbeitgeber der posierenden Massen ist Nevers, den Kratzer vom eitlen katholischen Grafen zum hochherzig friedensbewegten Maler umfunktioniert. Gegen die Szenen von Gewalt und Kampf setzt dieser ästhetisch Pazifist seine Tableaus mit Ölzweig und Gutmenschen, später allerdings wird auch er zunehmend aufgesogen von der herz- und weltbewegenden Geschichte im Fundamentalisten-Chaos. Denn die Fronten, die er da auf seinen Sitzungen als Visionen beschwörend befriedet, bleiben nur kurzfristig beherrschbar. Das Personal emanzipiert sich radikal, der von Liebe, Ehre und Missverständnissen am dichtesten umstellte Hugenotte Raoul hat nach einer kleinen Gehirnwäsche beim Blick auf die Ereignisse das Publikum auf seiner Seite: „Himmel! Wo bin ich?“.
Er ist nicht nachts im Museum, aber immer noch im Atelier, und dort springt die entfesselte Gewalt nach Hollywood-Muster buchstäblich aus dem Rahmen. „Zum Sieg oder zum Paradies“, verspricht der Hauptmann vor der Schlacht. „Gott will es“, weiß man auch auf der Gegenseite ganz genau. Das Waffenarsenal bietet vom Degen bis zur Maschinenpistole geschichtsbewusst reichhaltiges Vernichtungsgerät. Wenn geflügelte Teufel die Träume besetzen und Zigeunerinnen das Kriegsgrauen multimedial weissagen, versteckt sich der schockierte Maler hinter seiner Leinwand.
Der Regisseur allerdings auch, denn Tobias Kratzer (und Ausstatter Rainer Sellmaier) finden erst dann einen Weg, wenn sie das eigene Konzept bereits aufgegeben haben. Im dritten Teil der Aufführung, wo ironische Tändelei und aufgeschichtete Intellektualität durch vorbehaltloses Melodram übermalt sind, springt die emotionale Wucht von Meyerbeers Musik auch szenisch an. Überraschend kommt das nicht, schon vorher war man verblüfft darüber, wie es sich der ambitionierte Regisseur, der auch nicht sonderlich viel Interesse für die Charaktere der Figuren aufbrachte, zwischen den Aufschwüngen seiner Gedanken immer wieder in der Opern-Konvention bequem machte. Die große Neu-Interpretation dieser Fundamentalisten-Orgie, die ja nicht erst nach Iraker Nachrichtenlage fällig ist, die Geschichte vom ewigen Kreislauf der Intoleranz, hat er jedenfalls verpasst. Dafür setzt er die Königin auf einen echten Ackergaul, und Quasimodo hinkt auch mal wie ein Gruß aus dem andern Kino über die Bühne. Ansonsten versickert die ungelenke Satire spurlos, während die Albträume immer düsterer werden.
Meyerbeers Sänger-Partien haben höchste Ansprüche. Mühelos sind sie vom Nürnberger Ensemble nicht zu erfüllen (die dunklen Herren-Stimmen böllern durchweg pauschal), aber mit dem kalten Glitzern der Königin-Koloraturen von Leah Gordon und der melancholischen Grundierung der Valentine-Dramatik von Hrachuhi Bassenz kann man etwas anfangen. Uwe Stickert, als Gast für die schwierige Tenor-Rolle des Raoul engagiert, bringt die beste vokale Leistung – und bleibt als Darsteller doch bloß ein mobiles Standbild. Der große Chor ist ganz auf äußerste Vitalität gepolt.
Guido Johannes Rumstadt lenkt das Orchester der Staatsphilharmonie mit zunächst sehr eckiger Dramatik, quasi auch mit Keule, und ist nicht zimperlich. Er lässt es krachen, wenn großes Pauschalgefühl angesagt ist, und umschmeichelt die Stimmen mit dem Ölzweig, wo sie es als Stimulation brauchen. Magisch wird der Reiz dieser gegen- und nebeneinander aufgebauten Klangwelten, die denn doch (in der Partitur wie am Pult) ständig zwischen Inspiration und Effekthascherei schwanken, erst spät. Das Verschmelzen der Spalier stehenden Elemente ist ein laufender Prozess. Nach gut vier Stunden und gepfeffertem Finale gab es in Nürnberg mittlere Begeisterung, aber eine offenbar weit verbreitete Ahnung, dass in dieser Oper mehr steckt.