Foto: Harald B. Thors so wuchtiges wie effektvolles Bühnenbild für Andreas Kriegenburgs Münchner "Soldaten"-Inszenierung: Szene mit Ensemble, Opernballett, Jazz-Band und Statisterie. © Wilfried Hösl
Text:Detlef Brandenburg, am 26. Mai 2014
Ein rauschender Erfolg. Ein richtiger Opernerfolg mit all dem applaudierenden Enthusiasmus für die Sänger, den Dirigenten, sogar das Regieteam. Spätestens an diesem Mai-Sonntag im frühsommerlichen München sind Zimmermanns „Soldaten“, ein Epochenwerk des neuen Musiktheaters, im Opernrepertoire angekommen. Diese Ankunft zeichnete sich bereits seit ein paar Jahren ab: 2007 David Pountneys Inszenierung bei der Ruhrtriennale; 2012 Alvis Hermanis bei den Salzburger Festspielen; 2013 Calixto Bieito an der Oper Zürich; und jetzt, 2014, Andreas Kriegenburgs Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper. Überall gab es Riesenjubel, überall waren die Karten begehrt, und in München war der Enthusiasmus bislang wohl am größten – und die Rückführung von Zimmermanns einst so inkommensurabler Radikalität auf die Basis-Konventionen der Opernästhetik am konsequentesten.
Das ist jetzt zunächst mal gar nicht so abschätzig gemeint, wie es vielleicht klingt. Denn es gehört einiges dazu, ein solches Werk auf diese Basis aufzusetzen. Und vielleicht muss man in Würdigung dieser Leistung noch vor dem Regisseur Andres Kriegenburg den Dirigenten Kirill Petrenko nennen. Sein Dirigat ist – man es kann nicht anders nennen: Es ist sensationell. Wir haben uns ja daran gewöhnt, „Die Soldaten“ vor allem als Strukturgebilde wahrzunehmen, aus Respekt vor der einerseits (auch stilistisch) so extrem vielschichtigen, andererseits so streng durchorganisierten musikalischen Form, die Zimmermann seiner Oper nach dem Drama von Jakob Michael Reinhard Lenz gegeben hat. Einst, als die Uraufführung anstand, befanden selbst Koryphäen wie Günther Wand und Wolfgang Sawallisch diese Formschichtungen als so komplex, dass sie das Werk für unspielbar erklärten. 1965 bewies ihnen dann der Dirigent Michael Gielen in Köln das Gegenteil.
Bei Petrenko ist jeder Gedanke an sperrige, gar unausführbare Hyperkomplexität mit den ersten Tönen weggewischt. Schon das fünfminütige Preludio ist ein wahres Wunder an Klangzauber und Farbintensität. Später, wenn sich die Stil-Allusionen überlagern vom frommen Choral bis zum dreckigen Jazz, scheint es Petrenko nie darum zu gehen, das Heterogene nur zusammenzuhalten, sondern stets darum, dem jeweiligen Stil ein Maximum an spezifischer Expressivität zu geben. Petrenko bewältigt nicht nur, er macht Musik – und das mit einer Musik, die kaum zu bewältigen ist. Und wenn sich dann im dritten Akt die Klangschichten turmhoch aufeinander legen zu einer katastrophischen Polyphonie, erlebt man einen so farbsatten, ohrendröhnenden Orchestersturm, so dass einem vielleicht nicht Hören und Sehen vergeht, das wäre ja auch schade. Aber es vergeht einem jeder Gedanken daran, dass sich da Künstler im Graben und auf der Bühne gerade an einem der schwierigsten Werke der Musikgeschichte abarbeiten.
Diese zutiefst musikalische Natürlichkeit, in der sich unter Petrenko alles vollzieht, trägt die Sänger wie auf Flügeln. Die exaltierten Koloratoren und Intervallsprünge der Marie, des Desportes, der Gräfin klingen hier wie purer Belcanto – auch weil Petrenko nie Strukturen dirigiert, sondern atmende, ausdruckvolle Menschen. Und was für Menschen! Barbara Hannigan ist die beste Marie, die ich je gehört habe. Wie sie durch pointierte Artikulation und quecksilbrig flinke Stimmführung die nervöse Polystilistik ihrer Partie zum Funkeln bringt und die exaltierte Intervall-Akrobatik mit Ausdruck auflädt, ist atemberaubend. Ihre Marie ist ein musikalisch-artifizielles Ereignis. Das gilt ähnlich, wenn auch nicht ganz in dieser Schlackenlosigkeit, für den Desportes von Daniel Brenna – auch bei ihm werden aberwitzig exponierte Registerwechsel zum faszinierenden Ausdruck einer seelischen Perversion. Den größten Entwicklungsbogen von allen aber spannt Michael Nagy auf, der seinen Stolzius von der konventionellen Expressivität des verliebten Baritons bis in die erschütternde vokale Entäußerung eines zutiefst verletzten Menschen treibt. Eine tolle Leistung! Aber auch sonst ist das Riesenensemble großartig bis hinein in die solistischen Chorpartien. Christoph Stephingers ausdrucksvoller Vater Wesener, Okka von der Dameraus herbe Charlotte, Kevin Conners hysterisch philosophierender Pirzel, Nicola Beller Carbones gespreizt gestikulierende Gräfin Laroche oder Alexander Kaimbachers eleganter Junger Graf prägen sich besonders ein.
Beglückend ist zudem, dass hier vokales und darstellerisches Profil vollkommen verschmelzen. Denn Andreas Kriegenburg hat jeder Figur ihre ganz spezifische, sozial deformierte, dabei extrem expressive Körperhaltung mit ins Bühnenleben gegeben. Das erinnert an die bizarren Physiognomien von Otto Dix und ist dabei so ausgefeilt, dass man allein darüber einen ganzen Roman erzählen könnte. Auch hier allerdings bleibt Barbara Hannigans Marie unerreicht: eine zartgliederige Blondine von irrlichternder Nervosität, verwöhnt, ambitioniert, kokett, hysterisch, verführt, zerbrochen. Allein mit ihren flatternd fingernden Gesten erzählt sie ganze Geschichten, an denen ein Schicksal ablesbar ist. So wie der Vater gierig den Hals reckt nach dem gesellschaftlichen Aufstieg, so reckt sie die Arme nach dem nächst ranghöheren Liebhaber. Und so wie ihr der Vater beim Ausziehen zu nahe kommt und sie es hinnimmt, so nimmt sie es dann auch bei den Offizieren hin. Und parallel wird in einem andern Bühnenfenster darüber verhandelt, ob ein Mädchen zur Hure geboren oder zur Hure gemacht wird. Kriegenburgs Personenführung bezieht da ganz klar Stellung. Es ist ein unentrinnbarer, unseliger Zusammenhang aus Unterdrückung, Ehrgeiz, Hierarchie und Gewalt, der in dieser Bühnenwelt die Menschen zu dem macht, was sie sind.
Das erste freilich, was an dieser Inszenierung Aufmerksamkeit erregt, ist Harald B. Thors wuchtiger mehrstöckigter Bühnenkubus: eine Art Kaserneninnenhof, mit Türen an den Wänden rechts und links, und an der Rückwand bilden eine horizontale und eine vertikale Folge vergitterter Fenster ein Kreuz aus Käfigen, in denen die Soldaten und ihre „Huren“ herumtoben wie wilde Tiere. Dieses Käfig-Kreuz lässt sich nach vorne fahren, so dass die Brutalitäten nahe an die Zuschauer heranrücken. Die Soldaten hat die Bühnenbildnerin Andrea Schraad in schwarze Uniformen gesteckt, die an schrill stilisierte SS-Kluft erinnern. Die Frauen halten es eher mit der Mode des 19. Jahrhunderts, was sie um so verletzlicher wirken lässt. Die Käfige sind natürlich bestens geeignet für die Simultanszenen, weil jeder zu einer kleinen Bühne für sich werden kann. Andererseits lässt der wuchtige Bühnenkubus auch reichlich Platz für Massenszenen und Tableaus (Choreographie: Zenta Haerter). In diesem Setting inszeniert Kriegenburg ziemlich werkgetreu – zumindest in dem Sinne, dass viele seiner Aktionen die Szenenanweisungen zwar nicht reproduzieren, ihnen aber doch mit eigenen künstlerischen Mitteln antworten.
Auf die von Zimmermann vorgesehenen Videos verzichtet Kriegenburg. Er verlässt sich vollkommen auf die traditionellen, hier perfekt eingesetzten Mittel der Oper: Bühne, Kostüme, Personenführung im Einklang mit expressivem Gesang. So bleibt die große Oper ganz bei sich selbst – und das bei einem Werk, das doch eigentlich die Oper einmal sprengen wollte. Doch dazu ist dieser ganze Abend zu schön, zu gekonnt, zu selbstgenügsam in all seinem Können, zu hermetisch. Es gibt keine Brüche, keine Widerhaken; noch die krasseste Gewaltdarstellung sprengt nicht den Kosmos der Opernästhetik. Man leidet mit den Figuren, aber man leidet mit Genuss und geht beglückt nach Hause. Und damit gerät diese schöne, große, opulente, eindrucksvolle Inszenierung dann doch unausweichlich in die Opernfalle. Und man fragt sich, ob Zimmermanns „Soldaten“ da wirklich hingehören.