Foto: Szene aus "Blick der Tosca" in Bremen © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 5. Mai 2014
Gewalt und Leidenschaft! Maximalisiert ist die affektive Wirkmacht in Giacomo Puccinis Polit-Psycho-Thriller „Tosca“. Massenhaft pilgern abenteuerwillige Menschen immer noch in dieses Kraftwerk der Gefühle. Dabei sein, was das Leben angeblich spannend macht – was einem selbst aber nie widerfährt. Jedenfalls nicht so überlebensgroß. Dieses Feld der Unterhaltungsindustrie wird heutzutage auch vom hollywoodtösen Kino und Computerspielen beackert. Theater soll nicht mehr nur lustvoll Fantasieren zum Ausgleich des lustlosen Alltags, sondern mit dem Kanon etablierter Bühnenhits Wunsch und Wirklichkeit realistisch verbinden.
So suchte Anna-Sophie Mahler fürs Theater Bremen nach Tosca-Diven, Scarpia-Böswichtern, knuddeligen Cavaradossi-Revoluzzern unter den Bürgern der Hansestadt, also Zeitgenossen des archetypischen italienischen Opernbeziehungsdreiecks, um die geradezu mythischen Klischees auf Normalmaß zu stutzen. Gefunden wurden mit Hilfe der Bremer Heimstiftung drei entfernt ähnliche Biografien. Mahler führte Interviews, sortierte, verknüpfte, verdichtete das Material, überformte es musikalisch und komponierte szenisch den „Blick der Tosca“. Dokumentartheater, diskursives. Die Situation: Endstation Sehnsucht im Altenheim. Konkret mit Sturzprophylaxe-Übung auf die Bühne übersetzt, aber auch poetisch:
Die Wüste wächst, Sand lässt auf dem Spielort Erinnerungen und Lebensmöglichkeiten verschwinden. Pianist und Puccini-Anwalt Bendix Dethleffsen hält mit Partiturschnipseln das Tempo niedrig. Das Licht wirkt gedämpft. Düster todesnah ist die Atmosphäre. Die Schauspieler Matthieu Svetchine (Tosca), Peter Fasching (Scarpia) und Annemaaike Bakker (Cavaradossi) nehmen sich der Lebensgeschichte des ehemaligen Opernsängers Gert Krämer, einstigen Polizeichefs Ernst Diekmann und der noch aktiven Tierschützerin Elisabeth Kipling an. Anfangs strahlend freundlich, brechen sie auch sanft ironisch deren Engagement für eine gerechtere Welt, ein sich Verschenken/Verschwenden für die Kunst sowie für Recht und Ordnung. 1. Akt: Exposition der Motive. Svetchine lauscht der Callas-Tosca, Bakker präsentiert eine Powerpoint-Präsentation gegen Robbenschlächterei und Fasching eine geradezu heilige Empörung über widerständige Bremer, die im friedensbewegten 1980 ein Rekrutenvereidigung im Weserstadion bekämpften, wobei auch Polizisten verletzt worden seien und der spätere Grünen-Politiker Jürgen Trittin zu Gewalt gegen den Polizeipräsidenten aufgerufen habe. Alle beruhigen sich „Tosca“-gemäß im Te-deum-Singen.
2. Akt: Es geht ums Erinnern, diesen skurrilen Mechanismus, mit Urteilen, Gefühlen Empfindungen assoziierte Gedächtnisinhalte in die Erinnerung zurückzurufen und im Bewusstsein tagesaktuell neu zu konstruieren. Weswegen ein Vortragstext übers Erinnern und die schauspielerische Reaktion darauf wie in einer Zeitschleife wiederholt und dabei leicht verändert werden. Ebenso die musikalischen Motive im repetitiven Minimal-Music-Design. Am Ende sollen Erkenntnisse übers richtige Leben im falschen stehen. Resümees und Rechterfertigungen. Trotz Heirat oder Idealismus: Allein sind alle drei Protagonisten gewesen und geblieben. Nicht dialogisch, sondern als monologische Blöcke werden ihre Äußerungen inszeniert. Einsam sitzt also der Künstler im Theaterelfenbeinturm mit seinen „Tosca“-Aufnahmen, ist überzeugt, dem „Schönen“ gedient zu haben. Einsam schreibt die Tierschutzaktivistin weiter Briefe an Prominente, ist überzeugt, die Welt eine klitzekleinwenig besser gemacht und gezeigt zu haben, dass jeder Einzelne etwas ändern kann. Einsam blickt der Polizeipräsident auf sein Leben für die exekutive Gewalt inklusive „geduldeter Folter“ zurück, alles das sei gerechtfertigt gewesen zum Wohle des Staates und auch durch das Gehalt, das ihm ein Lebensende in einem der besseren Seniorenheime ermögliche.
3. Akt: der Tod. Eine Art Charon (Johannes Scheffler aus dem Bremer Opernchor) lockt mit Gesang und Getränk, von der Bühne abzutreten. Mahler schiebt noch eine letzte Szene ein, sich gegen Vorgaben (gestrenge Opernstruktur, Normenkatalog akzeptierten Lebens, Überwachungsstaat der „Tosca“, restriktive Seniorenheimordnung) zu behaupten: Bendix Dethleffsen nötigt Matthieu Svetchine, sich nur im pianierten musikalischen Korsett zu äußern und alle paar Takte seinen Redefluss zu unterbrechen, um zwei Noten zu glockenspielen. Da das die Coming-out- und Lebensgeschichte des dargestellten homosexuellen Künstlers unnötig behindert, verweigert er sich der Formatierung, bleibt der, der er ist auch ohne Puccins Melodien. Die schließlich verebben. So endet eine wunderbare Reflexion über Sein und Dasein im Spiegel der Kunst. Gerade weil die Darsteller sich von der unangenehmen Besserwisserei des Beginns zunehmend verabschieden und in die Überzeugungen ihrer Figuren hineinspielen, diese ernsthaft ergründen. Während Bremens Musiktheaterchef Benedikt von Peter mit seiner „Bohème“ zeigte, wie Puccinimusik in all ihrer Ausdrucksmacht wieder zur Geltung verholfen werden kann, gelingt Mahler dies mit Themen der Puccini-Arien „Vissi d’Arte“ (Tosca) und „Lucevan le stelle“ (Cavaradaossi). Zwei Versuche, ein Ergebnis: Das monströs Zeichenhafte der Opernmelodramatik wird entschminkt und in Wirklichkeit übersetzt. Verissimo!