Foto: Tilam Gersch inszenierte die Uraufführung von Katja Wachters "Eine Blume als Gegenwehr" am Schauspiel Essen © Birgit Hupfeld
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 29. April 2014
Vielleicht steckt in dem ganzen Big Data-Ballyhoo und seinem Menetekel totalitärer Überwachung doch auch ein utopischer Gedanke. Zumindest wenn es nach Frau F (Janina Sachau) geht. Mühsam hat sie die Restbestände natürlicher Artefakte in Form von Gummibäumen aufgeklaubt, hat ihre Computerhardware mit Klebeband zu einer Trümmerlandschaft auf einem Tisch zusammengeklebt und dann ist es endlich da: Das Überwachungsbild dieses süßen, schusseligen, tollpatschigen, hilflosen Herrn M (Tom Gerber), in den Frau F sich so hemmungslos verguckt hat – im wörtlichen Sinne, denn Überwachung heißt hier Liebe.
Seit zwei Jahren veranstaltet das Schauspiel Essen einen Stückewettbewerb unter dem etwas aufdringlichen Namen “Stück auf!“, der letztlich der Selbstversorgung dient: Der mit 5000 Euro gekürte Siegertext kommt in der folgenden Saison zur Uraufführung. 2013 gewann Kaja Wachter, die als Choreographin arbeitet und an der Bayerischen Theaterakademie August Everding unterrichtet, mit ihrem Erstling „Eine Blume als Gegenwehr“. Ein Stück mit einem Personensextett, dessen Buchstaben-Namen jede Individualität getilgt haben und das sich in ein Netz schräger oder schlicht verhinderter Kontaktaufnahme verstrickt. Regisseur Tilman Gersch entwickelt gleich zu Beginn eine stumme Choreographie der Vergeblichkeit zwischen den sechs Tischen mit Lämpchen vor einer eisgrauen Wand mit Fenstern (Ausstattung: Andreas Auerbach) in der Essener Spielstätte Casa. Einsame Kümmerlinge in einem Ballett der Annäherungen und Fluchtbewegungen. Frau F ist Marktforscherin, die ihre Untersuchungen bis in die intimsten Lebensäußerungen ihrer Mitmenschen ausgedehnt hat. Kein statistisches Detail soll ihr entgehen, ständig droht Datenverlust, der allerdings schlicht Liebesverlust bedeutet. Ihre arrogante, biedere Schwester B 2 (Ines Krug) hat diesbezüglich als Psychotherapeutin ihren ständigen Zwang zur Diagnose zum Erkenntnisraster verfeinert: Alles Fälle, wohin man sieht, inklusive ihrer Schwester und ihres Kollegen B 1 (Jens Winterstein), der ihr auf schamlose Weise nachstellt und im Cordanzug als Klischee des amerikanischen Seelen-doktors daherkommt. Ausgerechnet er gibt sich als Faktenfetischist, der psychischen Phänomenen mit schierer Tatsachenanalyse beizukommen versucht. Statistik und Einzelfall, Algorithmus und Zufall, Systematik und Störung, das ist das Labyrinth, in dem sich Katja Wachters Figuren verfangen. Ob Psychoanalyse oder Digitalisierung, die Kontrollsysteme menschlichen Verhaltens produzieren keine „Normalität“, sondern Verschrobenheit. Unter Wachters vermeintlich beiläufigen Dialogen, die zwischen Verlautbarung, platter Welterkenntnis, Alltagsgeplauder changieren, tut sich eine ironische Abgründigkeit mit Durchblicken ins Bodenlose auf. Das Geselligkeitsbedürfnis dieser Einsamen lässt sich auch mit einer Stimme im Kopf lösen. E (Jörg Malchow) trägt einen silbernen SciFi-Papphelm und sucht diese Stimme – womit er Therapeut B1 in den Wahnsinn treibt – in der Realität. Er entdeckt sie schließlich in Jonas Gerbers täppischem M. Der wiederum begegnet mehrfach zufällig ständig Herrn T (Jens Ochlast), der sich partout nicht an vorherige Treffen erinnern kann. Tilman Gerschs Inszenierung setzt vor allem auf Pointen und Absurdität, scheut weder Slapstick, noch Boulevard. Man kann sich Wachters „Blume“ sicherlich abgründiger vorstellen, aber die Qualität dieses Stücks dürfte darin letztlich auch liegen, dass es zahlreiche Deutungen zulässt.