Foto: Szene aus ”Utopia in Progress", einem deutsch-griechischen Theaterprojekt © Ilja Mess
Text:Valerie Schaub, am 29. April 2014
Kritik zu „Utopia in Progress“ am Jungen Theater Konstanz
Auf der Suche nach Gerechtigkeit treffen sich 19 Jugendliche aus Deutschland und Griechenland. Manche sind wie Pisthetairos und Euelpides, zwei Figuren aus Aristophanes Komödie „Die Vögel“, aus ihrem Land ausgewandert – oder wieder zurückgekehrt. Durch zwei Mikros stellen sie Fragen an die Deutschen, an die Griechen, an das Publikum. Über Identität, Sprache, Politik, über die Liebe, über Semmelknödel oder darüber, ob „rechts“ in Deutschland und Griechenland das selbe meint. Mit „agree“- und „disagree“-Schildern wird sofort abgestimmt. Es werden Geschichten erzählt. Da ist ein Mädchen, dass mit ihrem Freund nach Chicago ging und das Ghetto erlebte, ein deutsch-griechischer Junge, dessen Mutter nach der Rückkehr nach Griechenland in einer Konservenfabrik arbeiten muss oder die griechische Balletttänzerin, die ihre Liebe zu einem türkischen Tänzer sechs Jahre lang vor ihrer Familie verheimlicht hat. Per Video erzählt eine junge Afghanin, dass jetzt Andere ihre Entscheidungen fällen, seitdem sie mit ihrer Familie auf der Flucht ist. Aber es gibt auch lustige Momente voller Lebensfreude, konkreter Glücksvorstellungen oder komischer Tänze, die klischeehaft zeigen, wie Deutsche, wie Griechen sich zu Musik bewegen.
Durch Videos (Dagmar Donners), in denen die Eltern der Spieler befragt werden, was sie anders gemacht hätten, wenn sie nochmal jung wären, durch die Schilder unter den Sitzen jedes Zuschauers, mit denen auch er dafür oder dagegen sein soll, wird das Persönliche der Jugendlichen zum Spiegel. Und so findet sich das Publikum plötzlich auf der Leinwand wieder, mit den Schildern in den Händen, und der Forderung einer Stellungnahme: Sie hatten dafür gestimmt, warum? Wie viel Geld haben Sie auf dem Konto? Wohin sind Sie ausgewandert? „In die Schweiz“. Lautes, verachtendes Gelächter. So gnadenlos, wie sich die Jugendlichen auf der Bühne öffnen, erwarten sie auch vom Publikum Ehrlichkeit, die sofort knallhart quittiert wird.
Dokumentarische Aufarbeitung, die Kargheit auf der Bühne (Stephanie Karl), die Ehrlichkeit der Jugendlichen und die Nähe zwischen Ernst und Humor geben dem Abend seine Wucht, die durch eine Live-Cam nicht nur technisch sondern auch ästhetisch verstärkt wird. Chorische Elemente aus „Die Vögel“ lassen die Jugendlichen zu einer Front vor dem Publikum werden. Sie hat der Welt etwas zu sagen, diese „Generation Y“. Die Regisseure Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris haben ihr zugehört, und sie in dieser Koproduktion mit dem Nationaltheater Thessaloniki unglaublich treffend porträtiert. Sie ist rebellisch (z.B. gegen die Eltern), politisch aktiv oder desinteressiert, manchmal verzweifelt, wütend, müde.
Die Jugendlichen geben alles. Sie erzählen von ihren Ängsten vor Porzellanfiguren, davor, überwacht zu werden, zu ersticken, oder jemand mit dem Auto zu überfahren. Einer sagt, dass er nach Snowdens Enthüllungen sogar seine Gedanken zensiert. Die ganze Grübelei, belastende Zukunftsängste, die Erwartungen der Eltern, all der Druck, findet schließlich ein Ventil im tanzenden Rauschzustand. Und obwohl diese Szene auch die Nachstellung eines harmlosen Diskoabends sein könnte, ist sie vor diesem Hintergrund brutal und unglaublich emotional.
Am Ende liegt einer am Boden. Es dauert kurz bis er aufsteht, die Life-Kamera ausschaltet, die Mikrophone zum Boden verschränkt, um sicher zu sein, dass nichts aufgezeichnet wird. Und dann gibt er zu, dass er sich nicht interessiert. Für die Politik. Dass er es langweilig findet und nicht versteht, was in den Zeitungen steht. Von dem ständigen Nachdenken bekomme er Kopfschmerzen. Und er hat das Gefühl, sagt er dann, dass wir uns doch nur im Kreis drehen. Mit diesem Satz und einer wahrscheinlich sehr wahren Gefühlslage deutscher Jugendlicher, die sich unter Stroboskopen, Zigaretten und Zukunftsängsten verbirgt, endet das Stück. Langanhaltender, jubelnder und anerkennender Applaus vor allem für die, die an diesem Abend auf der Bühne alles gegeben haben: Christina Zacharoula Cheila, Aikaterini Glosopoulou, Stefania Kalomoiri, Angeliki Kontou Koukouma, Paraskevi Lypimenou, Laura Milena Mohacsi, Sarah Pfundstein, Eliana Sachpatzidis, Kerstin Schöneich, Vassiliki Tsakoumi, Eljo Bejko, Nicola Armando Liguori, Fabiano Lorusso, Michail Pitidis, Philip Alexander Reich, Georgios Sofikitis und Lazaros Vroulakos.