Foto: Szene mit Charlotte Hellekant (La fille ainee), Werner van Mechelen (Le fils aine), Patricia Petibon (La seconde fille), Frode Olsen (Le pere) und Stephane Degout (Ori)
© Bernd Uhlig
Text:Konstanze Führlbeck, am 1. April 2014
Hermetisch abgeschlossen ist die Welt dieser Großindustriellenfamilie, nur selten dringt fahles Licht von außen in ihr abgezirkeltes, klaustrophobisches Universum: „Au monde“, die neue Oper von Philippe Boesmans, komponiert als Auftragsarbeit der Oper La Monnaie, zeigt in einer schnörkellosen Inszenierung des Librettisten Joël Pommerat nach seinem gleichnamigen Drama aus dem Jahr 2004 unter der musikalischen Leitung von Patrick Davin eine Familienkonstellation, die trotz ihrer Verankerung in der realen Welt Erinnerungen an das symbolistische Theater Maurice Maeterlincks und den Existentialismus wach werden lässt.
Modern und archaisch zugleich sind diese namenlosen Personen, die sich in einem herrschaftlichen schwarzen Raum mit einem schmalen Lichtbalken bewegen: Der zunehmend durch Alzheimer gezeichnete Patriarch des Familienunternehmens, das durch das Waffengeschäft reich geworden ist, wird beeindruckend dargestellt von Frode Olsen. Die Töchter erinnern an Tschechows Schwestern: Unentrinnbar mit der Familie verbunden, sind sie entweder standesgemäß verheiratet wie die älteste Tochter (Charlotte Hellekant), die allerdings den Vater ihres Kindes nicht nennen kann, vielleicht aufgrund eines Inzests, oder aber berühmte TV-Sternchen wie die kommunikationsfreudige zweite Tochter, die etwas Farbe in die düstere Schattenwelt des Clans bringen will, mit wundervoll lyrisch aufblühendem Sopran interpretiert von Patricia Petibon. Oder sie wissen sich ungeliebt wie die adoptierte jüngste Tochter (Fflur Wyn). Für die Nachfolge bereit, warten der älteste Sohn (Werner van Mechelen) und der Gatte der ältesten Tochter (Yann Beuron) auf ihre Chance, zwei typische Managerpersönlichkeiten ohne Profil.
In diese bleiern lastende Leere, durch die die Beziehungen der Familienmitglieder umso stärker in den Fokus gerückt werden, platzt der Sohn Ori herein, mit nuancenreich differenzierendem Bariton und dezent angedeutetem Spiel dargestellt von Stéphane Degout. Er hat soeben aus ungenannten, vielleicht gesundheitlichen Gründen seine militärische Karriere aufgegeben und will jetzt „etwas Sinnvolles“ aus seinem Leben machen. Gerade ihn, den introvertierten Außenseiter, wünscht der Vater als Nachfolger. Ori akzeptiert erst nach einigem Zögern, das vielleicht mit einer in einer Rückblende gezeigten mysteriösen Frau zu tun hat, die er umschlingt und erwürgt. Doch er trägt jetzt eine schwarze Brille auf den Augen und leidet an sichtlichen Orientierungsproblemen. Unklar, fast surrealistisch bleibt die Rolle der fremden Frau, die sich immer wieder in ihrer fremden Sprache an die Familienmitglieder wendet, oft in anklagendem Tonfall, sich aber nie Gehör verschaffen kann – ein Appell von draußen, aus einer anderen Welt, voller Freiheitsdrang und Lebenslust, den Schauspielerin Ruth Olaizola mit hinreißender Intensität gestaltet.
Text und Szenerie von „Au monde“ beschränken sich auf Andeutungen; das Drama lebt aus der Musik, in der sich Emotionen und Entwicklungsprozesse entfalten. In der Prosodie wie in der oszillierenden Farbigkeit des Orchestersatzes weist die Partitur unverkennbare Einflüsse von Claude Debussy auf und doch ist die Tonsprache von Philippe Boesmans nie eklektizistisch oder gar eine Kopie; vielmehr schafft sie im Stil der postmodernen Avantgarde ohne Berührungsängste mit Stilzitaten oder Tonalität eine eigenständige, authentische Klangsprache, reich an lyrischen Momenten, aber auch voller Ausdruckskraft, Schönheit, Klangfülle und pulsierender Spannung, die das Orchester der Oper La Monnaie in höchster Präzision schlank und transparent ausformt zu einem faszinierenden Opernerlebnis.