Foto: Szene mit Jakob Lenz (Miljenko Turk), Stimmen (v.l. Aoife Miskelly, Marcelo de Souza Felix, Adriana Bastidas Gamboa, Erika Simons, Marta Wryk, Luke Stoker) © Bernd Uhlig
Text:Andreas Falentin, am 23. März 2014
„Jakob Lenz“, basierend auf Büchners Erzählung, 1979 uraufgeführt, ist die einzige Premiere einer Rihm-Oper in der aktuellen Spielzeit an deutschen Theatern. Umso mehr ist die Inszenierung in der Kölner Trinitatis-Kirche als starkes Plädoyer für den vernachlässigten, immerhin erfolgreichsten deutschen Musikdramatiker der letzten 40 Jahre zu werten.
Eng ist es im schmalen Kirchenschiff. Ein zum blechverkleideten Altar führender Steg teilt das Publikum in zwei Hälften. Kein Zuschauer ist mehr als zehn Meter vom Bühnengeschehen entfernt. Allein räumlich kann man sich dem Geschehen kaum entziehen. Dazu nimmt Miljenko Turk mit klangschönem Bariton und unglaublich sympathischer Ausstrahlung für sich ein. Er wankt über Erdhaufen, klettert auf den Felsen am anderen Ende des Stegs, kauert sich immer wieder hin, atmet, flüstert hörbar, brüllt, sucht verzweifelt Wärme, „Leben“, „Konsequenz“. Gleich zu Beginn zieht ihm der Pfarrer Oberlin das fast sprichwörtliche weiße Hemd des weltfremden, idealistischen Jünglings an. Lenz wird zum Objekt der Beobachtung für den Pfarrer, den Arzt und Forscher Kaufmann – und das Publikum. Rihm hat ihm sechs „Solo-Stimmen“ beigegeben, geisterhafte Abspaltungen seines Selbst, optische und akustische Visionen von Ängsten und Träumen. Aus dem szenischen Dialog zwischen Lenz und diesem, stellenweise um zwei Kinderstimmen ergänzten Sextett entwickelt Rihm seine fesselnde Anatomie einer existenziellen psychischen Störung.
Der jungen Regisseurin Beatrice Lachaussée gelingt es überzeugend, die Symbolik in Sprache und Musik zu konkretisieren, Lenz‘ Zustand auf den für ihn unüberbrückbaren Zwiespalt aus Sehnsucht nach bürgerlicher Lebenssicherheit und der Unbedingtheit einer künstlerischen Existenz zurückzuführen. Dabei lädt sie den kargen Raum mit möglichst großen Bildern auf, die die Nähe zum Kitsch nicht scheuen. Da tragen die Kinder feierlich die Leiche einer Mädchenpuppe über den Steg und singen von der Orgelempore aus. Da werden die „Solo-Stimmen“ als auf einer Mini-Tribüne aufgereihte Bauern-Gemeinde im Sonntagsstaat hereingefahren oder versammeln sich wie Geister auf der Kanzel. Manches gerät da eine Spur zu einfach, zu direkt. Dazu bricht sich abgestandene Operngestik Bahn, dominieren abgezirkelte, Haltungen illustrieren sollende Armbewegungen und stellen sich vor die Radikalität des Entwurfs.
Aber über solche Momente trägt die Musik. Das Stimmen-Sextett und die Kinder singen wundervoll, Wolf-Matthias Friedrich und John Heuzenroeder schaffen schlüssige Porträts von Pfarrer und Wissenschaftler, mit gelinder Übertreibung der eine, mit fast penetranter Sachlichkeit der andere. Der junge argentinische Dirigent Alejo Perez führt Sänger und Musiker sicher und leidenschaftlich. Vielleicht der unausgeglichenen Akustik der Kirche geschuldet, präpariert er die einzelnen Klangfarben des spröde instrumentierten Kammerorchesters heraus, weist Schlagwerk und Cembalo nahezu eine Erzähler-Funktion zu, grundiert von den grummelnden Celli, kommentiert von Aufschreien der Solostimmen aus dem kargen Bläsersatz. Jede Note, jeder Einsatz führt auf das dramatische Geschehen hin, das seinerseits durch seine Statik, sein besessen anmutendes Aneinanderreihen von nach innen führenden Bedeutungspartikeln auf die Musik zurück verweist. Eine seltene, fast das Ideal von Oper streifende Symbiose.
Im Herbst wird sich Andrea Breth in Stuttgart an dem spannenden Werk versuchen.