Foto: Szene aus "Front", Luc Percevals neue Arbeit am Hamburger Thalia © Armin Smailovic
Text:Ruth Bender, am 23. März 2014
Hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges schaut Regisseur Luk Perceval mit „FRONT“ in das Kriegsgeschehen und auf das, was Krieg mit den Menschen macht. Ein viersprachiger Abend, der als Koproduktion des Thalia Theaters mit dem NT Gent entstand und bei der Uraufführung in Hamburg eindringlich berührte.
Es ist ein natürgemäß verstörender Abend, in den Perceval den Zuschauer hineinzieht. Schon die Bühne ein auswegloser Trichter zwischen Gruft und Gedenkhalle. Annette Kurz hat sie bis auf die nackten Wände und Gerüste aufgerissen und als Rückwand einen metallisch schimmernden Schild (nachgebildet einem Deckengemälde auf der 1922 gesunkenen „Titanic“) bis in den Bühnenhimmel gezogen. Darüber ziehen Projektionen: junge Männer in Uniform, versehrte Körper. Kein Ausweg nirgends.
Die Schauspieler sitzen, stehen, kauern vorn an der Rampe hinter dünn beleuchteten Notenständern, ein rabenschwarzer Trauerchor, eingefroren wie auf einem alten Foto. Und so inszeniert es Perceval auch: als blätterte er sehr langsam durch ein Album mit alten Frontaufnahmen. Es gibt stille Stellungswechsel, einmal nur einen entrückt wirbelnden Totentanz, mehr Installation als Theater. Die Stimmen dazu kommen zögerlich, vereinzelt, wie aus großer Ferne, und nicht immer sind sie gleich zuzuordnen. Sie sind auch die Stimmen in unseren Köpfen, ein Chor aus Assoziationen, Erinnertem, Erzähltem.
Erich Maria Remarques Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ funktioniert dabei als Grundgerüst des Abends, Heimatbesuch und Ausflug ins Bordell inklusive. Dazu collagiert Perceval die Eindrücke, die der Franzose Henri Barbusse 1916 in „Das Feuer“ verarbeitete, sowie Briefe und Aufzeichnungen von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Sie erzählen von Ratten und Kameraden, von zu Hause und vom Danach. Und sie sprechen (entsprechend übertitelt) deutsch, flämisch, französisch oder englisch wie die Krankenschwester (Oana Solomon), die nach dem Tod ihres Verlobten nach Belgien ins Lazarett gekommen ist und hier den Rest ihres Verstandes zu verlieren droht.
Perceval gibt den Stimmen den Raum, den er dem Spiel verweigert. Und sie gewinnen fassbare Gestalt. Paul Bäumer, Remarques Ich-Erzähler, den Bernd Grawert so klarsichtig beginnt, und der doch irgendwann irre wird am endlosen Töten. Burghart Klaußners desillusionierter Truppenführer Kat. Berührend naiv Oscar van Rompays junger Emiel, dessen Briefe nach Hause hoffnungsfrohe Munterkeit vorspiegeln. Eine aufregend zerrissene Figur Steven van Watermeulens Leutnant De Wit, dem die Sprache aus dem Mund quillt wie längst zuviel gesagt. Hier wird nichts heroisiert; pur und ohne Pathos spielt Perceval sein Stimmenkonzert durch. Immer wieder läuft dabei die Sprache aus dem Ruder, als wäre ihr jeglicher Sinn abhanden gekommen. Sie verschleift sich in geisterhaftem Wispern, leiert wie auf einem alten Band, zerbröselt in dadaistischer Lautmalerei und verschmilzt in dem knarzenden, kreischenden, grollenden Klangteppich, den der Experimental-Musiker Ferdinand Försch auf dem monumentalen Stahl-Schlagwerk hinter der Bühnenrückwand erzeugt.
Perceval hat diesen Blick dafür, wie die Welt zusammenhängt. Auch in „FRONT“ wachsen die Teile zum Gesamtbild, das über das Einzelne hinausweist. Wird grenzüberschreitend sichtbar, wie dem Menschen im Krieg das Menschliche abhanden kommt. Lösen sich über die Sprachen hinweg die Grenzen auf, verfließt der Tod eines flämischen Korporals mit dem des Kameraden Franz, Pauls Heimaturlaub in der namenlosen Trauer von Emiels Mutter, die Katelijne Verbeke wie einen Hausgeist durch den Abend schweben lässt. Im Irrewerden sind sie alle gleich. Ein Totenlied, das auch als Plädoyer für ein einiges Europa taugt.