Foto: Märchenmusikvideotheater am Schauspiel Dortmund © Birgit Hupfeld
Text:Stefan Keim, am 17. Februar 2014
Rumpelstilzchen ist ein grotesker Zwerg mit riesigem Gesicht und Babyärmchen. Er hat die Gabe, aus Stroh Gold zu spinnen. Dafür will er allerdings bezahlt werden.
Es ist nicht klar, zu wem man im Märchen vom Rumpelstilzchen halten soll. Zur armen Müllerstochter, die vom überehrgeizigen Vater in eine Notlage gebracht wurde, aus der ihr nur der geheimnisvolle Gnom helfen kann? Oder sollte die Sympathie Rumpelstilzchen gehören? Denn er wird um seinen Lohn betrogen und zerreißt sich schließlich selbst, aus Wut und Enttäuschung über die Ungerechtigkeit der Welt.
Monströs schaut Rumpelstilzchen von der Videoleinwand herunter, eine Bedrohung, ein fremdes Wesen. Und doch singt Alexander Hacke, bekannt als Teil der Band „Einstürzende Neubauten“, einen dreckigen Rocksong mit vollem, rauem, blutigem Herzen. Das Stück „Republik der Wölfe“ ist ein garstiger, düsterer, wilder Comic. Auf der Bühne von Andreas Auerbach dreht sich ein Haus mit vielen Zimmern. Manchmal sieht man direkt hinein, mal verfolgt die Livekamera die spiellüstern schäumenden Schauspieler in Winkel, die dem Publikum sonst verborgen bleiben. In diesen Märchen gibt es kein glückliches Ende. Nur die Sehnsucht danach.
„Der Froschkönig“ zum Beispiel ist eine Geschichte über sexuellen Missbrauch. Der König schaut mit fiebrigem Blick zu, wie das schwabbelige Monstrum aus dem Teich vom Tellerchen seiner Tochter isst, aus ihrem Becherchen trinkt und dann in ihrem Bettchen schläft. Auf der Bühne ist das eine Vergewaltigung. Die Brüder Grimm laufen über die Bühne. Sie kleben aneinander wie siamesische Zwillinge. Wilhelm möchte die Märchen in ihrem Urzustand belassen. Während Jakob sie glätten, bearbeiten, zu pädagogischen Erbaulichkeiten umstricken will. „Diese Dunkelheit des Wolfes“ sagt er, „darf im deutschen Augenwinkel bestenfalls aufblitzen. Aber es muss eine Dunkelheit bleiben, die man wegblinzeln kann, verstehst du?“
So sind Grimms Märchen dann auch erschienen. Claudia Bauer bringt sie nun in ihrer anarchischen, kantigen Urform auf die Bühne – und verbindet sie mit unserer heutigen Zeit. Grundlage ihrer Stückentwicklung mit den Schauspielern war das Buch „Verwandlungen“ der amerikanischen Autorin Anne Sexton. Sie hat die Märchen der Brüder Grimm als Kriminalgeschichten neu erzählt.
Die Zusammensetzung der Band ist eine Sensation. Der New Yorker Paul Wallfisch, der seit einigen Jahren immer wieder in Dortmund arbeitet, Alexander Hacke von den „Einstürzenden Neubauten“, seine Frau, die Mitgründerin der Loveparade, Danielle de Picciotto und der Schlagzeuger Mick Harvey, der seit 36 Jahren mit Nick Cave arbeitet. Walzer und Garagenrock, ein psychedelisches Instrumentalstück – die Band entfaltet einen großen Kosmos an musikalischen Stilen. „Republik der Wölfe“ ist eine gewaltige Show. Emotional, böse, witzig, mit Blutsudeleien in der Tradition des Grand Guignol, aber auch mit stillen, ernsthaften Momenten der Verlorenheit. Märchen als Spiegel einer zerrissenen Gegenwart.