Foto: Jeno Hubays "Anna Karenina" in Braunschweig. Nadja Stefanoff, Arthur Shen © Volker Beinhorn
Text:Andreas Berger, am 17. Februar 2014
Von Romeo und Julia bis Tristan und Isolde konnte man immer den anderen die Schuld am Scheitern geben: Wenn die feindliche Gesellschaft mit ihren Konventionen nicht wäre, könnte sich die wahre Liebe ausleben nach Herzenslust. Goethe hatte da schon seine unromantischen Zweifel: Im libertinistischen Gartenreich der Wahlverwandtschaften zerstört der freiflutende Trieb die alten und die neuen Bindungen.
Nun sind die Zwänge im Russland Tolstois noch immer heftig, aber umgehbar, wenn man sich wie die Beamtengattin Anna Karenina und ihr geliebter Graf Wronskij ein Liebesnest im Ausland leisten kann. Doch von Anfang an liegt in Jeno Hubays Opernfassung von 1914 der Hauch des Scheiterns über ihrer Beziehung. Ihr unbedingtes Sehnen und seine unstete Eroberungslust kommen nur vorübergehend zur Deckung. Zu Recht muss sich Anna in ihrer anfänglichen Ablehnung der Beziehung wie in ihrem wahnhaften Einlassen darauf unverstanden fühlen.
„Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich liebe“, spricht sie, als sie dem abziehenden Grafen einen Korb gegeben hat. Danach erst jagt der Orchesterapparat in großem kribbelnden Anschwung auf, ein toller Kontrast, als brächen nach dem klaren Gedanken die Emotionen, all die nun zerstörten Illusionen erst aus. Im nächsten Moment muss sie Wronskij bei einem Rennunfall gestorben halten, kurz darauf weiß sie ihn überlebend: Im Grunde wider besseres Wissen will sie nun doch versuchen, ihren Traum von Liebe zu realisieren.
Hubays „Anna Karenina“, 1923 uraufgeführt in Budapest, wurde seit 1936 nicht mehr gespielt – die Nazis ächteten den ungarischen Großbürger-Künstler, der 1937 gestorben war, ebenso wie später die Kommunisten. Doch die Wiederentdeckung durch Braunschweigs Operndirektor ist verdienstvoll. Die beste unter den alljährlichen Ausgrabungen der letzten Jahre in Braunschweig.
Hubays Musik kennt hochdramatisch ausbrechende Klanggesten, fällt immer wieder in eine existentialistische Verkargung mit Sprechtonfall oder gesungener Erörterung zurück, oft Puccini ähnlich. Und lässt über weite Strecken eine hochnervös vibrierende Bewegung in Streichern wie Bläsern walten, die dem Werk eine Spannung gibt wie ein Krimi. Man weiß, was kommt, und bangt doch der Entwicklung entgegen. Eine Psycho-Musik, die Sebastian Beckedorf am Pult des vielfältig brillanten Staatsorchesters mit Inbrunst und Übersicht entfacht.
Hubays Schwerpunkt ist die Empfindung Annas und der Reflex auf Wronskij. Egal, ob nebenbei ein Galopprennen mit Chor läuft oder neckische Ballszenen mit operettigem Buffopaar. Wobei er diesen nicht weniger gerecht wird: Da mischen sich volkstümliche Weisen und Walzer ein; Matthias Stier darf als zunächst abgewiesener und dann glücklich erhörter Lewin mit seinem wunderschön geschmeidigen Tenor lyrischen Glanz verbreiten und Moran Abouloff als Kitty mit substanzvollem Sopran ihre Ab- und Hinwendung beglaubigen: auch spielerisch ein exzellentes Paar.
Die Musik Annas aber bleibt stets traurig umflort. Wenn sie und Wronskij weit entfernt voneinander auf der Balltreppe sich zuerst in die Augen sehen, seufzen die Holzbläser kurz auf wie im „Tristan“. Seiner überrumpelnden Emphase (im 2. Bild) antwortet ihre glühende Leidenschaft (im 3. Bild), da ist er schon abgekühlt.
Nadja Stefanoff ist als Anna die Idealbesetzung. Ihr dunkles Timbre passt zu der grüblerischen Grundhaltung der Figur wie ihre vielfältigen dynamischen Differenzierungen. Dabei hat ihr Sopran große dramatische Reserven und klar fokussierte Spitzentöne, die sich zu wohlklingender Leidenschaft verbinden. Bis in die Verzweiflung des vierten Bilds gelingt so ein mitreißendes Charakterbild.
Da herrscht dann Herbst auf Thomas Grubers Bühne. Und Wronskij, den Arthur Shen mit draufgängerischem, hier passend fahl klingendem Tenor singt, ist erkaltet ihr gegenüber. Das Rattern der Eisenbahn, das Hubay seiner Musik schon früh als böses Omen einkomponiert hat, lockt Anna auf die Schienen. Blackout.
Dass dieser Abend so in den Bann schlägt, liegt auch an Philipp Kochheims atmosphärestarker Inszenierung. Er setzt die Figuren ohne alle opernhaften Allüren in Beziehung, lässt ihnen aber Geheimnis und Entwicklung. Jede Haltung ist natürlich: Wenn Anna ganz zeitgenössisch auf dem Boden sitzend die Beine von sich streckt im Bewusstsein innerer Leere; aber auch wenn sie sich in ihrem alten Ballkleid dreht im Wind des herbstlichen Parks als Zitat einer Vergangenheit, in die sie sich zurückretten will aus Angst vor dem gescheiterten Jetzt. Doch der Zug rollt heran.