Foto: John von Düffels "Kirschgarten - Die Rückkehr": Uraufführung am Hans Otto Theater. Melanie Straub (Anja) © HL Böhme
Text:Wolfgang Behrens, am 10. Februar 2014
John von Düffel, seines Zeichens regelrecht omnipräsenter Autor, Dramaturg und Roman-Bearbeiter, hat ein Sequel geschrieben. Nicht irgendeines – nein, eines zu Tschechows „Kirschgarten“, jener Komödie, die eigentlich keine ist, die vielmehr peinigend elegisch die Frage nach dem Lebensglück in einer gesellschaftlichen Umbruchssituation stellt. Die Tragödie der Gutsbesitzerin Ranjewskaja besteht ja nicht zuletzt darin, dass sie unter den veränderten Bedingungen über keinen neuen Glücksentwurf verfügt, sondern gegen jede Vernunft an dem alten festhält.
John von Düffel versichert im Programmheft der Potsdamer Uraufführung, dass ihn in seinem Stück „Kirschgarten – Die Rückkehr“ ebenfalls eine Umbruchszeit gereizt habe und dass er hoffe, das Ergebnis könne für sich stehen: „als Wendestück einer ganz anderen Gesellschaft in den frühen 90ern des letzten Jahrhunderts“. Tschechow-Kenntnisse würden „nicht vorher abgefragt.“ Nun ja, mag alles sein. Aber von Düffel muss sich dann auch fragen lassen, wie sehr ihn der Umbruch im postsozialistischen Russland tatsächlich interessiert hat und ob es nicht doch der bildungsbürgerliche und letztlich schmale Gag der Tschechow-Überschreibung war, der ihn zu dieser „Rückkehr“ trieb.
Jedenfalls wirkt die Motivlage in „Kirschgarten – Die Rückkehr“ doch eher konstruiert als – sagen wir: problemorientiert. Anja Ranewski, die Enkelin der Ranjewskaja, reist mit ihrem Bruder Gajew nach Russland und tritt dort – da sie an dem seinerzeit ja völlig legal versteigerten Gut keine Eigentumsrechte geltend machen kann – als Investorin auf, die eine Art früheren Idealzustand wiederherstellen möchte. Die Immobilie gehört aber einem mafiösen Aufsteigertypen namens Lopachin (natürlich der Enkel des Tschechow’schen Lopachin).
Da daraus noch kein rechter Konflikt entstehen will und da man der wiedergeborenen Ranjewskaja die Sehnsucht nach einer Heimat, die sie gar nicht kennt, nicht glauben mag, muss von Düffel den kontroversen Kern seines Stücks förmlich als thesenhafte Hülsen formulieren. Mrs. Ranewski sagt dann Dinge wie: „Wir sind die Vertriebenen, Ausgeschlossenen, Entrechteten! Seit Jahrzehnten! Und jetzt, endlich, fällt der Eiserne Vorhang, wir können die Lücke in unserer Geschichte schließen und vergangenes Unrecht wiedergutmachen.“ Und der politisch beflissene Trofimow (natürlich der Enkel des ewigen Studenten Trofimow aus dem „Kirschgarten“) muss dann ebenso thesenhaft antworten: „Das, was Sie Lücke nennen, hat inzwischen eine eigene Geschichte. Und das zu beseitigen, was Sie altes Unrecht nennen, schafft neues Unrecht. Es ist ganz einfach ein Dilemma!“ O je.
Es wäre aber ungerecht, von Düffels Fortschreibung auf solche Holzsätze zu reduzieren. Über weite Strecken löst er nämlich etwas ein, was bei Tschechow fast nur Behauptung war: Er lässt Komödie spielen, und dafür hat er auch recht brauchbare Dialoge geschrieben. Das hat dann allerdings nur wenig mit dem dramatischen Ausleuchten einer Umbruchssituation zu tun und spielt stattdessen so geschickt wie berechenbar auf der Klaviatur der Stereotypen: Die chice Amerikanerin, der ungehobelte russische Prolet und ein paar andere seltsame Vögel.
Hier kann die vom Intendanten Tobias Wellemeyer eingerichtete Potsdamer Uraufführung prächtig aufsatteln. Schon der allererste Auftritt der amtierenden und ordentlich beschwipsten Kirschblütenkönigin Dunjascha (vielleicht eine Enkelin des Tschechow’schen Dienstmädchens Dunjascha?) und ihres etwas groben Verehrers Sascha schielt in Elzemarieke de Vos‘ und Alexander Finkenwirths praller Darstellung deutlich in Richtung Boulevard. Melanie Straub darf später als edel leidende Anja Topmodel-würdige Kleidung (Kostüme: Ines Burisch) zur Schau tragen, während Raphael Rubinos Lopachin in seinen derben Ausbrüchen so bärig ist, dass man ihn weniger als gefährlichen Luden denn als liebenswerten Tölpel wahrnimmt. Und für den Extraschuss Slapstick sorgt Christoph Hohmann als gegen Türrahmen laufender „Glückspilz“ Oleg. Wer für Boulevardtheater etwas übrig hat, der wird hier schon auf seine Kosten kommen.
Die schönste Rolle aber spielt der Raum, den Alexander Wolf entworfen hat. Ein anfangs mit Kartons verklebter, herrlich heruntergekommener Salon, von dessen „unsachgemäßer“ Nutzung Gerätschaften wie Hanteln und Boxhandschuhe oder mit Sozialismus-Devotionalien bestückte Wandvitrinen zeugen. Nach dem Abreißen der Pappen kommen blinde Fenster oder alte Durchgänge zum Vorschein, nach und nach lassen betörender Lichteinfall und herbeigeschleppte Möbel diesen Raum wieder zu dem des Tschechow’schen „Kirschgartens“ werden. Und manchmal flackert auf unheimliche Weise das Licht, und die Musik Marc Eisenschinks grummelt, als ob man in Stanley Kubricks „Shining“ wäre. Dann scheint für Momente die Möglichkeit einer „Kirschgarten“-Überschreibung auf, die raffinierter und abgründiger wäre, als sie John von Düffel und Tobias Wellemeyer präsentieren.