Text:Alexander Dick, am 9. Januar 2014
Mal angenommen, wir hätten nur noch zwölf Tage zu leben – was stellten wir damit an? Schwierige Frage. Auf die Idee einer fiktiven Lebensbilanz in Briefen an den lieben Gott kämen wir, Hand aufs Herz, wohl eher nicht: jeder Tag = ein ganzes Jahrzehnt. Oder doch? Die Titelfigur in Eric-Emmanuel Schmitts Erzählung „Oscar und die Dame in Rosa“ ist erst zehn, umso unwirklicher wirkt das, was dieser todkranke Oscar schreibt und „erlebt“ – obwohl die Künstlichkeit und Modellhaftigkeit ganz klar Bestandteil von Schmitts Dramaturgie ist. Man kann gleichwohl seine Schwierigkeiten mit solcherlei „Baukastenphilosophie“ haben: Reduktion schürt Halbwissen, und das ist die Quelle des Vorurteils.
Fabrice Bollon muss das gespürt haben, als er Schmitts Büchlein in die Hand nahm. Dass den Freiburger Generalmusikdirektor und Komponisten gerade dieses Sujet zu einer eigenen Oper inspirierte, zeugt von der Lust an der Herausforderung. „Oscar und die Dame in Rosa“ ist bereits verfilmt worden, mit mäßigem Erfolg, es existiert eine Theaterfassung. Bollon ahnte wohl, dass die Musik das tertium comparationis sein muss, das die kleinen Widersprüche zwischen Anspruch und Machart in Schmitts Werk auflöst. Die Uraufführung am Freiburger Theater, dem Bollon seine Oper geschenkt hat, löst genau das ein. „Oscar und die Dame in Rosa“ ist eine liebenswerte, unterhaltsame Oper für Alt und Jung (etwa ab zehn Jahren) geworden.
Das hat viel mit der Machart zu tun. Denn da sind sich der seit langem im deutschen Sprachraum lebende Komponist und Schmitt, der Franco-Belgier mit elsässischen Wurzeln, gar nicht so unähnlich: Sie haben keinen akademischen Dünkel, sie ziehen sich nicht zurück in den Elfenbeinturm, in die „Hypertrophie des Denkens“, wie es Schmitt in seinem – ebenfalls – Briefband „Mein Leben mit Mozart“ nennt. Dort findet sich auch ein möglicher Schlüssel zu Bollons Kompositionsidee: „Heilung durch Schönheit“.
Die „Oscar“-Partitur scheut nicht zurück vor den Musik-Schönheiten und -Traditionen, und sie bedient sich eines ganz linearen Erzählstils. Es ist eine Musik, die die Jahrhunderte in sich aufsaugt und vor der jüngeren Pop-Musik-Geschichte nicht Halt macht. Es gibt kein E und kein U bei Bollon, sehr wohl aber strenge Formprinzipien. Die einzelnen Szenen seiner zweiaktigen Oper verbindet er oft mit prägnant rhythmisch-melodischen Formen; das Orchester spricht, kommentiert, und die Funktionalität dieser Sprache ist determiniert durch klassische Musikbausteine – Motive, Ostinati, markante Blechbläserriffs und nicht zuletzt eine ausgefeilte Zitattechnik. Die im Libretto solitär vorkommende Figur der Putzfrau nutzt der Komponist als wandelnden Koloraturenschatz, und Qiu Ying Du skizziert ihre Königin-der-Nacht-Elemente mit Eleganz und Präzision. Bemerkenswert auch, wie Bollon den im Buch vorgegebenen Schneeflockenwalzer aus Tschaikowskys „Nussknacker“ oder das mit einem eigenwillig neobarocken Englischhorn-Thema kontrapunktierte „O du fröhliche“ in die Partitur einwebt: bruchlos und doch mit eigener Charakteristik.
Clemens Bechtel hat als Librettist und Regisseur zusammen mit Ausstatterin Olga Motta eine kongeniale Bildsprache gefunden, die stark vom Licht (Markus Bönzli) lebt. Der Schauplatz Krankenhaus definiert sich durch nur wenige charakteristische Elemente, der Raum öffnet sich, der Intention des Stücks entsprechend, oft weit darüber hinaus. Selten erlebt man im Theater eine so fruchtbare Verquickung von Bühne und Videosequenzen (Thilo Nass), und die gemeinsame Handschrift einer zum Verzerren neigenden Bildsprache tut der Inszenierung sehr gut, verhindert sie doch durch ihre Nähe zum Comic, dass der Abend in Richtung Gefühlskitsch abdriftet. Im Gegenteil: Durch die durch Stelzen künstlich erhöhten Erwachsenen und die Kinderschar in ihrer Pumucklhaftigkeit bekommt die Paraphrase auf Leben und Tod etwas ganz Deftiges und auch Kindgerechtes.
Dass Fabrice Bollon seine Familienoper nun doch auch als Dirigent aus der Taufe gehoben hat, dürfte kein Schaden gewesen sein, im Gegenteil: Er umsorgt sein „Kind“ mit größter Umsicht, und einen besseren Geburtshelfer als das Philharmonische Orchester könnte er sich kaum wünschen. Leidenschaftlich, präzise zeichnen die Musiker seine durch die vielseitige Verwendung von Keyboard, Vibraphon und Drumset immer wieder angereicherten Klangfarben nach. Zu denen übrigens auch die Stimmen gehören. Bollon behandelt sie wie Instrumente, was sowohl für die ausgezeichneten Kinderchöre (Thomas Schmieger) und Chöre (Bernhard Moncado) gilt, wie auch für die Solisten. Sharon Carty singt und spielt den Oscar mit bewundernswerter Einfühlsamkeit und lyrischer Sanftheit. Die Figur der Oma Rosa, die Komponist und Regisseur als Fiktion in Szene setzen, gibt Xavier Sabata mit dezenter Komödiantik; der Countertenor des Spaniers signalisiert hohe sinnliche Ambivalenz. Mit ihrem hinreißend klaren, beweglichen Sopran singt sich Carina Schmieger mühelos bis in die Höhen des e³ vor – da könnte eine große Karriere bevorstehen. Ausgeglichen und harmonisch agieren auch die anderen Solisten – Christoph Waltle als feister Popcorn, Kyoung-Eun Lee als Einstein, Neal Schwantes als Dr. Düsseldorf oder Sigrun Schell und Wolfgang Newerla als Oscars Eltern. Stürmischer Beifall – ein klares Signal: Diese Oper sollte auf den Bühnen Karriere machen!