Foto: Ein junges Ensemble in einer pointiert geschliffenen Inszenierung: Szene aus Ibsens "Volksfeind" am Stadttheater Fürth. © Thomas Langer
Text:Dieter Stoll, am 17. Januar 2014
Am Ende sitzt der aufmüpfige Dr. Stockmann mit seiner halbwegs treuen, nur gelegentlich fremdknutschenden Ehefrau betröpfelt auf den Trümmern des angezettelten Aufstands. Eben noch hat er den Skandal um die Heilwasser-Vergiftung in der Bäderstadt aufgedeckt und mit schnaubendem Idealisten-Temperament zur Attacke gegen „die Gesellschaft“, welche sich da mit Kosten/Nutzen-Philosophie an der Verantwortung vorbei mogelt, ausgeweitet, da ist das übergeordnete Problem zu seinem höchstpersönlichen geworden. Der Schwiegervater, den der Autor Henrik Ibsen als praktizierenden Zyniker ins Rennen schickt, hat das Erbe der jungen Familie kurzerhand in affärenbedingt günstigen Bäder-Aktien angelegt. Nun will er sehen, wie belastbar das ausgestellte Gewissen denn im Zweifelsfall bleibt. Sein Gedanke ist ein ätzendes Leitmotiv von Werner Müllers Fürther „Volksfeind“-Inszenierung, das umso giftiger wirkt, je mehr es mit schmunzelndem Verständnis verbunden scheint: Sind wir nicht alle ein bisschen korrupt?
Es geht eindeutig um Gegenwart. Gespielt wird Florian Borchmeyers satirisch funkelnde Bearbeitung, mit der die Berliner Schaubühne erfolgreich durch die Welt tourt, und die lässt eine angemessene Menge Soap am dramatischen Kern der Story schäumen. Müllers Regie kitzelt das heraus, indem sie die Nähe auch räumlich herstellt (Ausstatter Robert Pflanz baut die erste Szene über dem Orchestergraben vor die Nase der Zuschauer) und in der extrem jungen Besetzung jeden Gedanken an Stehkragen-Historie verscheucht. Dieser Bäderarzt Stockmann (Sebastian König spielt ihn sehr gekonnt als durchtrainierten Wutbürger mit Eitelkeits-Anfällen) ist samt zwei deutlich pragmatischer orientierter Journalisten-Kumpels auch modisch noch im Studenten-Modus der Weltverbesserung, als er seine Enthüllungen platziert. Eine luxuriösere Art von WG-Romantik liegt in der Luft, wenn die große Tafel, an der sie grade noch gegessen haben, mit zwei Handgriffen zum Billard-Tisch gemacht wird. Auf der Gegenseite Stockmanns Bruder, der steifbeinige Machtmensch aus der Politik (Heiko Ruprecht sprengt die Bürokraten-Karikatur in mehreren Zündstufen) und der käufliche Verleger als allzeit wendbares Fähnchen im Wind. Ist das Aufdecken oder das Vertuschen des Skandals unverantwortlicher, wo es um das Schicksal einer ganzen Stadt geht?
Die Frage von Recht haben und Rechthaberei tanzt dem Zuschauer vor Augen, dass es ihm ganz schwindlig wird. Die große Volksversammlung, bei der die Gegenspieler schließlich wortgewalttätig aufeinander prallen, bringt keine Erlösung – aber mächtig theatralischen Effekt. Während auf der Bühne der Bruderzwist zur Staatsaktion aufzusteigen scheint, hat sich im Parkett ein „Volk“ der aggressiven Zwischenrufer eingeschlichen, das dem aufklärerischen Pathos mit Prügelstrafe begegnet. Für Momente der Irritation beim kabarettistisch geschulten Publikum, das zuvor in solidarischer Erheiterung reagiert hatte, reichte das durchaus. Die abgezapfte Energie des Authentischen, die bei Rimini-Protokoll oder Volker Lösch zur großen Qualitäts-Marke von Theater geworden ist, bleibt in dieser eingeschobenen Portionierung allerdings doch nur ein amüsiert zur Kenntnis genommenes Simulations-Spiel.
Spannend ist die Aufführung allemal, denn Werner Müller knüpft geschickt die vielen Fäden – Verbindungen zwischen Familiendrama und Idealistentrauma, von Polit-Thriller und Gesellschaftsporträt – zum Netzwerk, das auf immer weiter aufgerissener Bühne Ibsens Quasi-Klassiker als große Metapher für schlagkräftiges Gegenwartstheater trägt. Nach zwei pausenlosen Stunden gab es dafür viel Beifall mit besonderem Jubel für den Jeans-Doktor mit dem gewissen Gewissen.