Text:Wilhelm Roth, am 28. Oktober 2013
Georg Büchners „Woyzeck“, als Fragment überliefert, 1879 in einer bearbeiteten Fassung erstmals gedruckt (wegen eines Lesefehlers als „Wozzeck“), 1913 in München endlich uraufgeführt, hat auf Theaterleute sofort einen tiefen Eindruck gemacht. Schon wenige Jahre später gab es zwei „Wozzeck“-Opern, von denen Alban Bergs Version berühmt wurde, Manfred Gurlitts Fassung aber fast vergessen ist. Nun hat das Staatstheater Darmstadt erstmals beide Werke zu einem spannenden Opernabend vereint.
Alban Berg hat Büchners Stück 1914 in Wien gesehen, ihn faszinierte dieser arme, geschundene, für medizinische Zwecke missbrauchte, von seiner Geliebten Marie betrogene Soldat Wozzeck – eine Figur wie erfunden für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Berg hat schon 1915 mit der Arbeit an der Oper begonnen, sie war 1921 fertig, die Uraufführung fand am 14. Dezember 1925 unter der Leitung von Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper statt.
Schon vier Monate später, am 21. April 1926, kam Gurlitts „Wozzeck“ in Bremen heraus, wo der Komponist Generalmusikdirektor war. Gurlitt hat immer betont, dass er Bergs Partitur nicht kannte. Bergs Oper – obwohl heftig umstritten – hatte schnell Erfolg, wurde bis 1933 national und international mehrmals nachgespielt, 1931 in Darmstadt. Dass Gurlitts Version sich nicht durchsetzen konnte und nach 1945 nicht wiederentdeckt wurde, hing auch damit zusammen, dass Gurlitt wegen Konflikten mit den Nazis nach Japan ging und dort bis zu seinem Tod 1972 als Dirigent arbeitete, eine wichtige Figur im japanischen Musikleben.
Der Darmstädter Doppelabend macht nicht nur mit einem vergessenen Werk bekannt, sondern ermöglicht auch einen geschärften Blick auf Bergs „Wozzeck“. Obwohl aus der selben Textvorlage entwickelt, unterscheiden sich beide Opern stark voneinander. Berg formt aus dem Büchner-Fragment ein auch musikalisch streng gebautes Drama von drei Akten mit je fünf Szenen, das unausweichlich auf die Katastrophe zuläuft: Wozzeck tötet Marie und ertrinkt selbst bei der Suche nach dem Mordmesser. Die Figuren sind durch die Musik charakterisiert, die Emotionen kommen vor allem aus dem Orchester, so im Zwischenspiel in d-moll nach Wozzecks Tod, einer der intensivsten Trauermusiken der Operngeschichte.
Gurlitts Fassung besteht aus 19 kurzen, meist hart aufeinander folgenden Szenen von je etwa vier bis sechs Minuten Länge, sie ist mit 75 Minuten Dauer eine Viertelstunde kürzer als die von Berg. Man könnte sie eine Kammeroper nennen. Zwar schreibt Gurlitt ein normal großes Opernorchester vor, benützt aber oft nur einzelne Instrumentengruppen. Berg dagegen benötigt den großen Apparat, er setzt mit radikal neuem Inhalt, einem Sozialdrama, und in einer neuen, weitgehend atonalen Musiksprache die Tradition der Großen Oper fort.
Gurlitt nimmt eine Gegenposition ein, er macht armes Theater. Bei ihm dominiert ein lyrischer Grundton, der den Sprechgesang der Sängerdarsteller bestimmt. Dieser Ton intensiviert die Szenen zwischen Wozzeck (David Pichlmaier) und Marie (Anja Vincken), er vergegenwärtigt noch einmal die Zärtlichkeit, mit der ihre Liebe begann, hat aber auf die Dauer keine große Variationsbreite. Berg ist viel erfindungsreicher in der musikalischen Charakterisierung seiner Figuren, die Auseinandersetzungen zwischen Wozzeck (Ralf Lukas) und Marie (Yamina Maamar) gewinnen an Ernst und Heftigkeit. Ihm gelingen unvergessliche musikalische Kürzel, wenn zum Beispiel der Narr in der Wirtshausszene im Falsett nur ein paar Takte singt: „Ich rieche … Blut“.
Berg und Gurlitt beklagen das Leid der Menschen, „der armen Leut“, und sie steigern die Klage zur Anklage gegen eine Gesellschaft, die die Menschen ausbeutet und drangsaliert. Bei Gurlitt dominiert die Trauer. Man erstarrt als Zuschauer in der letzten Szene, wenn der tote Wozzeck auf einem Seziertisch liegt und der Arzt den Brustkorb aufschneidet. Auch Bergs Oper ist ein bewegender Klagegesang, aber die Anklage wird viel härter formuliert. Berg zeigt den Arzt und den Hauptmann, die Repräsentanten dieser Gesellschaft, in all ihrer eitlen Brutalität, und der Regisseur John Dew folgt ihm dabei. Die starke Szene, in der Wozzeck vom Arzt (sehr präzise Thomas Mehnert) für wissenschaftliche Zwecke missbraucht wird, fehlt merkwürdigerweise in Gurlitts Auswahl aus dem Büchner-Text.
John Dews Regie ist souverän in der Beherrschung der Bühne. Den Gurlitt-“Wozzeck“ zeigt er als Kammerspiel, die Bühne (Dirk Hofacker) wird durch schräge, sich immer wieder drehende Wände und irritierende Lichter in eine surreale Nachtlandschaft verwandelt, in ein Gefängnis. Beim Berg-“Wozzeck“ bleibt die Riesenbühne leer, auch hier wird mit Bauelementen und Licht operiert, auch dieser „Wozzeck“ spielt in der Nacht. Die Personenregie dagegen ist eher gediegen, nur dem Hauptmann und dem Doktor gibt Dew, in beiden Fassungen, die nötige Schärfe. Die Kostüme (José-Manuel Vázquez) stammen bei Gurlitt aus dem 19. Jahrhundert, bei Berg aus der Zeit der Weimarer Republik, aber einen großen Unterschied sieht man nicht. Gesungen wird sicher und gut verständlich, trotzdem ist man für einige Übertitel dankbar.
Das Orchester unter der Leitung von Martin Lukas Meister trägt die Spannung durch den ganzen Abend. In einzelnen Passagen aber wagt Meister es nicht, die Ungeheuerlichkeiten der Bergschen Partitur voll auszuspielen. Nach dem Tod der Marie steigert sich das Orchester in zwei gewaltigen Akkorden in ein Fortissimo bis über die Schmerzgrenze hinaus. Ohne Pause setzt dann ein Soloklavier in der Bar ein, in die sich Wozzeck geflüchtet hat. Es steht aber so weit im Hintergrund der Bühne, dass man es kaum wahrnimmt. Dieser Gefühlssturm wird abgemildert, ebenso die Emotion im schon erwähnten Zwischenspiel nach Wozzecks Tod. Außerdem hat Dew hier der Versuchung nicht widerstehen können, diese Minuten ohne Handlung zu bebildern. Auf und nieder fahren Bühnenelemente, sozusagen die Wellen, die Wozzeck verschlungen haben. Hier aber müsste die ausdrucksstarke Musik alleine wirken, jede optische Zugabe stört.