Foto: "Das Rheingold" am Staatstheater Nürnberg. v.l.: Antoino Yang (Alberich), Hrachuhí Bassénz (Woglinde), Judita Nagyová (Floßhilde) und Leah Gordon (Wellgunde) © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 2. Dezember 2013
Die Weltmeere grüßen den Grund des Rheins: Wo Woglinde, Wellgunde und Flosshilde mit albernen Wasserspielen ihren Schatz hüten und nebenbei den liebesbedürftigen Tollpatsch Alberich bis auf die Unterhose peinigen, ist längst nicht alles Gold was glänzt. Es glitzern leere Plastikflaschen, die jegliche Restbestände von verblühender Natur mit ihrer bedenkenlosen Müll-Philosophie durchsetzen, aber auch später real wie metaphorisch die Basis und den Rahmen für die obere Gesellschaft besorgen werden. Die aufsteigenden ersten Töne des neuen Nürnberger „Ring des Nibelungen“, der etwas vollmundig selbstbewusst als „Ring fürs 21. Jahrhundert“ angekündigt wurde, kommen tatsächlich aus völliger Dunkelheit (die Musiker der Staatsphilharmonie tasten sich buchstäblich hinein ins Geschehen), aber schon der kleinste Schimmer zeigt eindeutig: Diese Welt ist kaputt! Ob mythische Vorzeit (des Wagner-Originals) oder nüchternes Jetzt (der Schmiedleitner-Inszenierung), ob Nixen, Zwerge, Götter oder Riesen – für alle und alles gilt die Massen-Diagnose „Realitätsverlust“. Was man nicht sehen will, wird einfach vertagt. Erst mal geht es um die blanke Macht.
Zunächst also die durchgeknallten Disco-Girlies an den Auffangbecken der Welt-Währung. Was die Rheintöchter böse kichernd gegen den jämmerlich anstürmenden Alberich verteidigen, kann schwerlich die eigene Unschuld sein. Drei Machthaberinnen gegen einen Underdog. Wenn er die Sehnsucht nach der ohnehin unerreichbaren Liebe programmatisch aufgegeben hat, darf er ein Schlamm-Bad aus dem Kanister nehmen, mit golden schimmerndem Öl, als Unverwundbarkeits-Garantie für den Nibelungen ähnlich trügerisch verheißungsvoll wie das Drachenblut später für Siegfried. Zwei Szenen danach ist er wieder da, aufgestiegen zum skrupellosen Gewaltherrscher im Chefsessel, nur der eigenen Selbstüberschätzung ausgeliefert. Antonio Yang singt und spielt diese Rolle weit weg vom gängigen Brachial-Tonfall so intensiv, nimmt derart souverän die oft aneinander reibenden Eigenarten des wilden Regisseurs und des milden Dirigenten auf, dass er zum Angelpunkt der Aufführung wird. In der „Walküre“ soll er dann als Wotan wiederkehren, durchaus verheißungsvoll.
Im „Rheingold“ war für den erkrankten Randall Jakobsh erst zur Generalprobe der markante Reise-Wotan Egils Silins eingeflogen worden. Er fand sich bei bester vokaler Kondition gut zurecht im ungewohnten Ambiente (Bühne: Stefan Brandtmayr), wo im Walhall-Wartesaal eine Sitzgruppe zwischen Plaste und Elaste für die ganze Sippe reichen muss. Zum ersten Erklingen seines berauschenden Majestäts-Motivs sank er nach schwer durchschaubarem Regie-Ratschluss mit Göttergattin Fricka (nur mittelgewichtig: Roswitha Christina Müller) zum ehelichen Quickie in die Polster. Die hier als Mafia-Duo im Normalmaß antretenden Fasolt und Fafner (auch stimmlich keine Riesen: Taehyun Jun und Nicolai Karnolsky) trampelten alsbald proletarisch auf der gleichen Stelle herum, als sie ihr Tauschgeschäft mit Pfand-Göttin Freia (Michaela Maria Mayer) betrieben. Zwar ließ der Schauspielregisseur Georg Schmiedleitner, der also mit seiner fünften Arbeit im Musiktheater auf dem Gipfel ankommt, auch in dieser Oper keine Figur im Auto-Modus verkümmern, aber interessiert hat ihn vor allem der feurige Loge. Vincent Wolfsteiner, in Nürnberg schon Tristan und Othello, nahm die Herausforderung zur unheldischen Charakterstudie sichtlich erfreut an, gab dem ausgestopften Intriganten reichlich schmierige Bosheit und beglaubigte mit trompetengoldener Stimme, was er in schiefem Blick und lauernder Haltung vorlegte.
Bei der Kletterpartie in Alberichs Unterwelt warten neben dem gequälten Bruder Mime (Hans Kittelmann) eine etwas harmlose Blue Man Group in Goldbronze und der feste Wille des Regisseurs, dem Zaubertheater auch hier nicht zu verfallen. Also verkümmert beim Tarnkappen-Trick der Riesenwurm völlig gruselfrei zur aufblasbaren Made und die kleine Kröte wird mit sicherer Hand auf den Souffleusenkasten geknallt – es darf gelacht werden. Der aufgeklärte Humor verflüchtigt sich ohnehin, wenn Wotan und Loge brutal auf den wehrlosen Gastgeber einschlagen, bis sie ihre Beute haben. Die Goldbarren in der Form von Ölkanistern werden abtransportiert, zur Eigenheim-Finanzierung. Wenn die Götterburg endlich schlüsselfertig bereit steht, köpft der hitzige Gott Donner ein Champagner-Fläschchen. Zur „Formel 1“-Stimmung reicht es dennoch nicht, denn Neu-Walhall ist allenfalls ein neonblinkendes Trugbild, eine gescheiterte Vision, wie sie bei dieser Inszenierung aus jeder Ecke leuchtet.
Georg Schmiedleitner hat den „Ring“-Vorabend vor allem dazu genutzt, der Geschichte alle Podeste zu entziehen. Er behauptet Gegenwart, wischt Mythologie beiseite und kann mit dieser rabiaten Methode der vielstrapazierten Story überraschend spannende Aspekte abgewinnen. So eigenwillig zugeordnet, dass die von kundigen Besuchern sogleich begonnene Spurensicherung in Verbindung zu Kriegenburg und Castorf belanglos bleibt. Trotzdem ist der Mutigere in diesem Nürnberger „Ring“ vorerst der Dirigent. Denn GMD Marcus Bosch, der vielleicht den sachlichen Pierre Boulez als heimlichen Paten nahm, vertrieb nicht nur jegliche Art von Pathos, er ging bei seiner dienenden Aufmerksamkeit für die Sänger bis an den unteren Anschlag der Schmerzgrenze.
Alt-Wagnerianer, die irritiert an ihrem Hörgerät nestelten, müssen statt der Batterien nur die eigene Erwartungshaltung überprüfen. Denn Bosch lässt es bei allem Hang zur Nüchternheit auf der kleinen Flamme höchst differenziert brodeln, gibt dem Klang versonnene Lyrik und macht dabei die Szene frei für grenzwertig eingesetzte Stimmen. Im Vergleich zur hinreißend glanzvollen, in der Erinnerung fest verankerten Interpretation von Philippe Auguin beim letzten Nürnberger „Ring“ vor zehn Jahren, der ja dann auch als chinesische Erstaufführung in Peking gastierte, ist das eine echte Alternative. Zugegeben, sie muss sich ganz wie die ebenso detailverliebte Regie erst in der ganz andere Dimensionen ansteuernden Protz-Poesie der bis 2015 folgenden drei Haupt-Stücke beweisen, wo zu zeigen wäre, ob beim Weltuntergang der Stoff, aus dem die Kunst ist, im Kunststoff den passenden Spiegel findet.
Das Interesse der Öffentlichkeit dürfte gesichert sein. Die Pressestelle hatte beim „Rheingold“ die meisten Kritiker-Anmeldungen seit Jahren und das Premierenpublikum wich dem Blick auf die Abfall-Gesellschaft nicht aus. Viel Beifall am Ende, etliche Jubel-Rufe und natürlich auch eine von Gegen-Bravos gekräuselte Buh-Welle für den Regisseur. Es bleibt spannend.