Foto: Furioses Tanzensemble: "West Side Story" an der Komischen Oper Berlin. © Iko Freese/Drama Berlin
Text:Detlef Brandenburg, am 29. November 2013
Leonard Bernsteins „West Side Story“ ist ein viel gespieltes Musical. Große Opernhäuser haben es ebenso im Programm wie Sommerfestivals oder Tourneebühnen, die Verfilmung von Robert Wise und Jerome Robbins konnte 1961 sage und schreibe zehn Oscars einheimsen. So eine Erfolgsgeschichte erzeugt natürlich ihre eigene Ikonographie: 50er-Jahre-Amerika, Harlem, Latinos gegen US-Streetkids, Straßenschluchten, Feuertreppen, Ödnis unter Highway-Brücken – all das hat Barrie Kosky in seiner Inszenierung der „West Side Story“ an der Komischen Oper Berlin vom Regietisch gewischt. Stattdessen: die schwarze, leere Bühne, nebeldurchwabert, von Lichtbahnen zerschnitten, eine heruntergefahrene Beleuchterbrücke steht für das Feuertreppen-Wirrwarr der Hinterhöfe. Nur zwei Zugeständnisse machen Kosky und seine Ausstatterin Esther Bialas an den genreüblichen Glamour: Ein ganzer Schwarm von Discokugeln beglitzert die Latino-Rhythmen des ersten Teils; und ein Sternenvorhang befunkelt Marias und Tonys Liebe.
Das ist das Faszinierende an dem Regie-Tausendsassa auf dem Chefsessel der Komischen Oper: Kosky bleibt unberechenbar in einem äußerst produktiven Sinn. Bei seiner Monteverdi-Trilogie oder der „Zauberflöte“ hat er aus hehren Opernklassikern mitreißende Entertainment-Events gemacht. Diesem Musical der Underdogs aber gibt er die Härte zurück. Und der Dirigent Koen Schoots macht unüberhörbar klar, dass diese Härte durchaus auch in Bernsteins genial eklektizistischer Musik steckt: Der Sound des großen Orchesters ist scharf, pointiert, manchmal aggressiv und wird ebenso wie die Stimmen zusätzlich profiliert durch die elektronische Übertragung.
Diese Berliner „West Side Story“ hat eine artifizielle Brutalität jenseits allfälliger sozialer Verortungen (Berlin-Neukölln, Köln-Mülheim, die Pariser Banlieus, Londons East End). Kosky und sein Choreograph Otto Pichler entwickeln die Handlung ganz aus den hochenergetisch agierenden Sängern und Tänzern der Streetgangs: Daniel Therriens Riff, Anführer der Jets, sieht aus wie ein Anabolika-gestählter Johnny-Depp-Pirat. Gianni Meurer ist der lässig aggressive Shark-Boss Bernardo. Sigalit Feig changiert als Latino-Queen durchaus vielschichtig zwischen der Eitelkeit der Leader-Braut und einer verletzlichen persönlichen Würde. Auch andere Gangmitglieder sind immer wieder als Typen erkennbar, die ganze Produktion bezieht eine unglaubliche Kraft aus dem von David Cavelius einstudierten aggressiven Chorgesang und dem Tanz der bestialisch wilden Körper in dieser schwarzen, von Franck Evin effektvoll durchleuchteten Bühnennacht
Nur dass da eben auch noch diese Romeo-und-Julia-Liebesgeschichte ist. Deren Protagonisten stehen gegenüber den Streetgangs so isoliert da, dass sich zwischen dieser Liebe und der Welt, gegen die sie revoltiert, keine Beziehung herstellt. Also fehlen ihr der soziale Bezugspunkt und damit die Tragik. Und deshalb verleppert das ganze tieftraurige Finale dann doch sehr rat- und ziellos. Was allerdings nicht nur am Regiekonzept liegt, sondern auch an den beiden Hauptdarstellern. Tansel Akzeybek singt den Tony hervorragend: mit dunkler, stabiler Stimme und allem Schmelz, den diese Partie braucht. Aber er agiert wie der Schönling vom Dienst in einer 60er-Jahre-Schmonzette – dass er mal der beste Mann der Jets war, glaubt man ihm in keinem Moment. Und Julia Giebel als Maria sieht aus wie ein herziger Pummel aus gutbürgerlichem Wilmersdorfer Hause, aber nicht wie eine Latinobraut aus der wo auch immer zu verortenden Gosse. Ihr gelingt auch die Assimilation ihrer geschulten Opernstimme ans rauere Musicalgenre längst nicht so gut wie Akzeybek. Sie bleibt ein durchaus sympathischer Fremdkörper.
Trotzdem: „West Side Story“ an der Komischen Oper Berlin ist ein Musical-Ereignis von faszinierender Ausstrahlung. Wieder hat Barrie Kosky an der Komischen Oper ein Genre neu definiert.