Foto: "Berlin 1920 - Eine Burleske" von Karl Alfred Schreiner am Gärtnerplatztheater. Nadine Zeintl © Ana María Arias Valdivia
Text:Eckehard Uhlig, am 22. November 2013
„Die Deutschen brachten ihre ganze Vehemenz und Systematik in die Perversion, Berlin verwandelte sich in das Babel der Welt. Hier musste ein Rückschlag kommen, eine grauenhafte Reaktion.“ So beschreibt Stefan Zweig in seinen Erinnerungen die Stimmung zwischen Euphorie und Untergang zu Beginn der 1920-iger Jahre, so zelebrieren Ballettdirektor Kurt Alfred Schreiner und seine Compagnie vom Münchener Staatstheater am Gärtnerplatz im uraufgeführten Ballett „Berlin 1920- Eine Burleske“ den Tanz auf dem Vulkan, dem man sich in der taumelnden Metropole verschrieben hatte.
Freilich ist Schreiners Tanzschöpfung eigentlich eine Melange aus Nummern-Revue, pantomimischem Tanztheater, Chaplinade und glamourösem Varieté – oder vielmehr ein Jux mit langen Tanzbeinen und tobender Musik, ein Melodram im Dschungel der Sinnlichkeit, eine Mischung aus Tamtam und Tingeltangel. Alles vor dem fotographisch projizierten Hintergrund der Berliner Friedrichstraße, dem Zentrum der Bohème-Revuen und vor eingeblendeten Stummfilm-Ausschnitten mit Buster Keaton oder Videoclips mit der im Bananenschurz tanzenden Josephine Baker. Das wirkt im Ambiente des Münchener Cuvilliés-Theater, dem glänzenden Meisterwerk höfischer Rokokokunst, wie ein Schlag ins Kontor.
Die Show beginnt mit verliebtem Getändel „vor der Laterne“. Prekariatsbursche Hans (Alessio Attanasio) trifft Eva (Sandra Salietti), das Mädchen aus höheren Kreisen. Dann dröhnt in einer Fabrikhalle rhythmisch-wuchtiger Trommeldonner auf Fässer aus Stahl („Totem“ von David Stiges-Sardà). Ganz in Grau gehaltene industrielle Arbeitssklaven (darunter auch Hans) malochen im Takt. Für den sorgt der dandyhaft mit bleistiftdünnem Menjoubärtchen und aaliger Brillantine-Frisur ausstaffierte Industrieboss (Davide Di Giovanni). Er hat später mit Hilfe der Eltern des Mädchens (LiekeVanbiervliet und Morgan Reid) natürlich die besseren Karten bei der tanzbegeisterten Eva und offeriert ihr eine Starrolle im Richie`s, seinem eigenen Revue-Varieté. Obwohl er bald Eva gegen eine neue Geliebte (Isabella Piroudi) austauscht, kommt Hans nicht mehr zum Zug und fackelt schlussendlich das Etablissement seines Peinigers ab.
Dazwischen gibt es glanzvolle Ensembles mit 14 Girls in weißen Schwanenfeder-Fummeln sowie erotisch flunkernde Soli von Eva. Meisterhafte gestisch-mimische Miniaturen, als die Eltern ihrer Tochter Eva am heimischen Tisch Mores lehren und ihr den armen Hans austreiben, lockern die Handlung auf. Amüsant witzige Szenen mit rosaroten Tänzer-Pudelhunden, Clowns mit bunten Lollies, Luftballonverkäufern und Stelzenläufern sind auf dem Jahrmarkt anzutreffen. Daneben auch Tele-Tubbies, grüne und blaue Tüllbällchen mit Beinen, die zu Eduard May`s in Babytalk vorgetragenem Song „ Du bist als Kind zu heiß gebadet worden“ kreiseln und springen. Überhaupt sind Schlager und Gassenhauer jener Zeit Trumpf. Chansonette Nadine Zeintl gibt in unterschiedlichen Stimmlagen mit „ Musik , Musik, Musik“ (Peter Kreuder) oder „Mein Hund beisst jede hübsche Frau ins Bein“ (von Leopold Krauss-Elka) einen Verschnitt aus Marlene Dietrich, Fritzi Massary und Zarah Leander.
Jazzig-fetzig und schwungvoll das Orchester des Gärtnerplatztheaters unter Michael Brandstätter: Zu Musiken von Hans Eisler, Kurt Weill, Darius Milhaut oder Ernst Krenek leuchtet Zeit-Kolorit auf, agieren und tanzen Prostituierte, Transvestiten und Polizisten, schlagen sich zwei Boxer (Max Schmeling Reminiszenzen), treiben es „Rauschwesen“ und Showgirls miteinander. Herausragend die von neoklassischer Tanzsprache durchsetzten Pas de deux Evas mit Hans sowie dem Großindustriellen. Körpersprachliche Extase steht neben tränenseligem Tralala, Zärtlichkeiten enden in zynischer Kaltschnäuzigkeit. Die Berliner Exzesse werden von der Choreographie mit Gespür für den Zeitgeist eingefangen. Geradezu logisch mündet der Taumel in das schnarrende Gebrüll Adolf Hitlers ein, mit dem das Publikum schließlich entlassen wird.