Text:Dieter Stoll, am 7. Oktober 2013
Es gibt eine wirklich faszinierende Szene in dieser nahezu punktgenau zum Verdi-Jubiläum herausgebrachten Nürnberger „Othello“-Inszenierung von Gabriele Rech, die sie über alle ansonsten reichlich bedienten Aufführungs-Konventionen triumphieren lässt: Wenn der vor Eifersucht tobende Held, der soeben im venezianischen Palais vor aller Augen seine „weiße Frau“ demütigte, die Verachtung der feinen Gesellschaft spürt, klatscht er sich grimmig eine Portion schwarzer Farbe ins Gesicht. Aus dem eben noch gefeierten „Löwen von St. Marco“, der bis dahin im gesellschaftlich anerkannten Solariums-Teint auftrat, ist innerhalb weniger Sekunden wieder „der Mohr von Venedig“ geworden. Nachgeschminkt zum „schwarzen Mann“ kann er nun ganz und gar der personifizierte Wutanfall sein, als den ihn die Regie durch die Augen der Zuschauer (und des Widersachers Jago, der sich am Ende scheinheilig zwischen das Publikum in die Anonymität des dunklen Parketts zwängt) sehen möchte. Er bleibt einsam bis in den Tod, denn in der letzten Szene ist die ermordete Desdemona bereits nach Regieanweisung abtransportiert, als er den Irrsinn seiner Tat erkennen und verzweifelnde Reue also dem trostlos leeren Ehebett vortragen muss. Der Selbstmord ist ein Fanal der Einsamkeit.
Ganz so eigenwillig, wie diese Szenen wirken, ist die halbherzig zupackende Inszenierung, wo sie das Drama lapidar in eine ungefähre Gegenwart stellt, ansonsten nicht. Sie mäandert nahtlos zwischen fleißig wimmelndem Realismus und bannkräftigen Metaphern, rutscht dabei immer mal in fuchtelndes Pathos und richtet sich wieder an sinnstiftenden Arrangements auf. Gleich im Anfangs-Bild nach der Ankunft des siegreichen Generals (Vincent Wolfsteiner führt ihn mit einer tenoralen Pracht-Attacke aus der Mittelloge im 1. Rang ein) posiert der Chor mit gefüllten Plastikbechern realitätssatt in Schlachtenbummler-Rempelei und buchstäblich bis zum Erbrechen ausgeführten Vollrausch-Kapriolen, räumt den Platz dann aber fürs hohe Paar (sie voller Liebreiz, er bereits augenrollend), das sein persönliches Vorspiel dort per Liebes-Duett und Textillockerung quasi öffentlich beginnt. Von da an übernimmt der abgrundböse Jago ganz die Spielleitung. Für sein Leitmotiv, das Höllen-Credo, wird extra der Eiserne Vorhang heruntergelassen, es soll wohl – welch frommer Wunsch – die reine Kunst dahinter nicht infizieren. Dann wälzen sich der misstrauische Machtmensch und der planungssichere Vernichtungsmanager wie ein verkumpeltes Macho-Duo auf dem Billardtisch. Klar wird: Othello kann von Jago nur vorgeführt werden, weil er der eigenen Liebe nicht traut.
Die Bühne von Dieter Richter drängt „das Volk“ auf engstem Raum vor einem Relief mit Löwen-Kopf zusammen und reißt die Szene danach mit verdoppelndem Video-Effekt auf für die kalte Pracht eines Palastes, wo das Personal im Smoking dient. Zum Finale steht einsam im leeren Raum das jegliche Erotik bannende Funktions-Ehebett, das Todeslager. Es ist malerisch kitschig von Kerzen umstellt, also kann der röchelnd zur Tat taumelnde Othello erst die Beleuchtung und dann das Lebenslicht auspusten. Vincent Wolfsteiner, zuletzt der Nürnberger Tristan und noch in dieser Saison als Loge und Siegmund im neuen „Ring“ vorgesehen, singt die Verdi-Partie mit Wagner’scher Kraftanstrengung. Das führt nach dem furiosen Opening, weil die Aufführung szenisch wie musikalisch, also in jeder Hinsicht schnellstmöglich den obersten Anschlag von Dramatik anstrebt, zu einigen Klang-Defiziten, ehe die doch beachtliche Heldentenor-Substanz ihre eigene Charakteristik durchsetzen kann. Der Jago von Mikolaj Zalasinski (indisponiert gemeldet, aber in der biegsamen Stimme differenzierter als im verhärteten Spiel) ist bis zum Verkrümeln im Publikum ganz radikaler Zyniker. Die wunderbarsten Momente sind Ekaterina Godovanets zu verdanken, denn ihre um Fassung ringende Desdemona bleibt einschließlich des Nachtgebets auf glaubwürdig innigste Lyrik konzentriert und scheint auf den Orchesterwogen zu schweben.
Dirigent Guido Johannes Rumstadt nimmt Verdis wuchtige Dramatik mit allen Ecken und Kanten an, um auf diesem Monument wie in kleinen Oasen umso wunderlicher die Poesie erblühen zu lassen. Die Musiker der Staatsphilharmonie Nürnberg loten diesen ständigen Kontrast glänzend aus, während der Chor denn doch etwas zu sehr auf die Plakatkunst der Oper setzt. In den kleineren Rollen erreicht das Nürnberger Ensemble nicht die Qualität der drei Protagonisten. Und ältere Opernfreunde erinnerten sich denn doch etwas wehmütig an eine mehr als 30 Jahre zurückliegende epochale „Othello“-Inszenierung an gleicher Stelle, als der bis dahin spartenferne Schauspiel-Regisseur Hansjörg Utzerath im schwarzen Titelhelden den Aufsteiger Cassius Clay alias Mohammad Ali entdeckte. So kühn übersetzend, so gedanklich wie emotional aufrüttelnd und so provozierend ist Gabriele Rechs neue, auch für die Opéra National de Bordeaux entstandene Inszenierung nicht, zumal die Rassenfrage letztlich am Schminktopf hängen bleibt. Aber sie schafft es im Laufe von drei Aufführungsstunden, die klappernden Klischees der Oper zugunsten von spannenden Theater immer besser unter Kontrolle zu bringen. Ob das jubelnde Premierenpublikum den Überraschungs-Abonnenten Jago als Sitz-Nachbarn mit Mahnmal-Funktion aufgenommen hat, wäre noch ausgiebigst zu erörtern.