Foto: "Schlafes Bruder" in Schwerin © Silke Winkler
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 23. September 2013
Die Welt ist eng, und Bretter gibt es nicht nur vor den Köpfen – das Bühnenbild von „Schlafes Bruder“ suggeriert sofort die Stimmung des Balletts: Vernagelt und begrenzt leben die Dorfbewohner inmitten grober Holzlatten, die zwar Schutz geben, doch zeitgleich Feinstoffliches verhindern. Im Vorarlberg geht‘s hinterwäldlerisch zu.
In solch‘ eine Umgebung hinein gebären sieben Frauen in der ersten Szene ihre Kinder – der Fortbestand des Dorfes ist gesichert.
Nicht jedoch das Leben eines Einzelnen. Um den aber geht es in „Schlafes Bruder“: Elias kommt zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit einer außergewöhnlichen musikalischen Begabung in einem österreichischen Dorf zur Welt, als Sonderling hat er indes denkbar schlechte Voraussetzungen. Robert Schneiders Roman erschien 1992, 1995 entstand auf der literarischen Grundlage ein ähnlich erfolgreicher Film in der Regie von Joseph Vilsmaier. Neun Jahre später verarbeitete der Choreograph Ralf Rossa – Ballettdirektor in Halle – den Stoff zu einem getanzten Abendfüller, uraufgeführt 2004 an den Bühnen Halle.
Am 22. September 2013 hatte das Werk nun Premiere mit dem 16-köpfigen Ballett-Ensemble des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin.
Das verkümmernde künstlerische Talent des Protagonisten interessiert den Choreographen weniger, stattdessen stellt er die sozialen Beziehungen in den Vordergrund: Elias‘ Liebe zu seiner Cousine Elsbeth; das gleichgeschlechtliche Begehren ihres Bruders Peter, der Elsbeth mit einem Bauern verkuppelt, um Elias für sich zu haben; und das gestörte Verhältnis des Dorfes zum Außenseiter. Tuomas Hyvönen, Neuzugang in Schwerin seit dieser Spielzeit, verkörpert die zentrale Gestalt zu Ballett-Beginn als naiven Wonneproppen, so dass er sich vielfältige Möglichkeiten zu differenzierter Entwicklung offen hält. Die Figur des in ihn verliebten Cousins Peter gestaltet der Solist Maxim Perju atemberaubend und animalisch: Androgyn sein Auftritt, umgarnt er das Objekt seiner Begierde raffiniert und fantasievoll, gleichzeitig ständig zweifelnd ob der moralischen Werteskala der erzkatholischen Dorfgemeinde: Die Pas de deux‘ zwischen Elias und Peter bilden großartige Höhepunkte im zweistündigen Abend. Wirklich berührend auch Eliza Kalchevas als Elsbeth, die Elias‘ Gefühle zwar erwidert, sich aber dennoch dem Willen ihres Bruders beugt. Dazwischen gelingt es Choreographie und Schweriner Ensemble, die von Kirchen-Heiligen observierte Dorfgemeinschaft als durchaus brüchige unheilige Notallianz zu skizzieren. Perfekt gewählt dazu wurde Musik von Goran Bregovic und Aaron Jay Kernis, die nuanciert und sinnlich betörend jede Stimmungsschwankung begleitet.
„Wer liebt, schläft nicht“ taucht in Schreibschrift auf der hölzernen Bühnenrückwand auf. Elias liebt und verordnet sich folgerichtig den Tod durch Schlafentzug – Hypnos, griechischer Gott des Schlafes, hat nur einen Bruder: den Gott des Todes, Thanatos.