Foto: "Liebe und Information" am Theater Münster. Julia Stefanie Möller, Ilja Harjes © Oliver Berg
Text:Marieluise Jeitschko, am 23. September 2013
Caryl Churchill wird in England als Doyenne des experimentellen Theaters verehrt. In Deutschland hat vor allem die Berliner „Schaubühne“ das sozialkritische, zunehmend surreale Werk der Autorin vorgestellt. Nach sechs Jahren Pause hat die inzwischen 75-Jährige ihr 35. Stück veröffentlicht. Uraufgeführt an „ihrem“ Londoner Theater „Royal Court“ im Frühjahr 2012 und nachgespielt in New York off-Broadway im vorigen Herbst, wählte nun Münsters Schauspieldirektor Frank Behnke Churchills Bilderbogen über den Verlust von Emotion und Empathie in der heutigen oberflächlichen Informationsflut. Die Deutsche Erstaufführung zur Eröffnung von Behnkes zweiter Saison in der Universitätsstadt ging den Premieren von „Hamlet“ und dem Auftragswerk zum Wahlsonntag „Ich habe verstanden“ – Monolog eines Abschied nehmenden Politikers – von Lukas Hammerstein an diesem Wochenende voraus.
Während der 100 pausenlosen Spielminuten drängen sich 50 Szenen mit doppelt so vielen Personen, gespielt von neun Schauspielern und sechs Statisten, auf kleinstem Raum wie ein hektisch bewegter „Cluster“ heutiger Lebenssituationen zwischen Banalität und Tragik, Momentaufnahmen von Typen und Situationen wie beim Zappen durch die TV-Kanäle. Da entlockt ein Teenie im Bikini dem Lover sein Geheimnis und zerstört damit die Beziehung. Ein kleines Mädchen führt eine nervös trippelnde edle Deutsche Dogge am Halsband Gassi, ein Junge schlüpft in die überdimensionalen Angler-Stiefelhosen des Vaters, der das Flußufer frustriert verlassen hat, weil er dort kein „Netz“ (für sein Smartphone) hat. Eine Krebskranke im Endstadium fragt den Arzt nach der ihr verbleibenden Lebenszeit. Ein Demenzkranker vermisst seine (neben ihm stehende) Frau so sehr. Ein Mann prahlt, Gott habe direkt mit ihm geredet, ein anderer weiß Worte wie „Tisch“ in vielen Sprachen. Eine Frau in rot geblümter Schlafanzugjacke erwischt ihren Mann mit einer anderen, die ihre rot geblümte Hose trägt. Beim Blind Date vergrault ein Mann die Frau mit Details seiner ekelerregenden Forschungsarbeit mit Küken – und vergisst ihr die rote Rose zu überreichen, die eine Blinde später sehr blumig beschreibt…
Weggeschwemmt von der Flut aus Reizen werden Tiefgang und Humanität. Information als Liebestöter. Witzig ist manches, anrührend anderes, bizarr sehr vieles. Pina Bausch erfand die minimalistische Technik vor Jahrzehnten für ihr Tanztheater. Hier aber ist auch das Wort wichtig. Manche Pointen und Witze kommen nicht über (zumindest aus schrägem Winkel von der Seitentribüne bei verzerrter Akustik). Mag sein, dass der englische Humor im Deutschen auch gelegentlich verloren ging. War die Uraufführung in London in einem weißen Kubus mit klaren Abgrenzungen der Szenen durch kurze Blackouts über die Bühne gegangen, so verwischt Regisseurin Cora Thum in Münster die Grenzen. Das schafft – sicher gewollt – Irritation und Tohuwabohu. Das Publikum feierte das wackere Ensemble und die angereiste Autorin mit anhaltendem Applaus.