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Nachrichtentheater

Nicolas Stemann: Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine

Theater:Thalia Theater, Premiere:14.09.2013Regie:Nicolas Stemann

In rasantem Tempo, ohne Unterlass sprudeln sie aus immer neuen Quellen und überfluten unsere Sinne. Angebliche Fakten, unüberprüfbare Berichte, erstaunen wollende Mitteilungen buhlen um Aufmerksamkeit, sollen unterhalten und werden konsumiert wie Fastfood. Dieser Überwältigungstaktik mit Überwältigungstheater begegnen, die Überforderung im Infotainment-Alltag durch Überforderung im Kulturgenuss-Feierabend verdoppeln: So versucht Nicolas Stemann am Thalia Theater etwas Ungewöhnliches. Da Kunst zumeist durch Verdichtung seiner Themen auffällt. Aber wem, wenn nicht Stemann, sollte Konzentration durch Verzettelung gelingen: Hat er doch schon den gedankenüberfluteten Textgeweben Elfriede Jelineks mit erfrischend überbordenden Happenings Erkenntnisgewinne abringen können. Seine „Kommune der Wahrheit“ möchte Erregungspotenziale, Aufmerksamkeitsenergien, Fantasie kitzelnde Kräfte der Nachrichtenströme abziehen, damit das Theater als „Wirklichkeitsmaschine“ anheizen und eine Gegenwelt kreieren, eine Utopie. Oder erstmal die ganz große Show, die totale Performance wider die banale Alltagswirklichkeit.

Statt sitzend Theater gucken soll das Publikum durch einen Kunstparcours flanieren. Wandelhalle, Pausenfoyers, Bühne, Garderobennischen, das gesamte Theater wurde mit Alufolie ausgeschlagen, Weltveränderungsparolen hängen an den Wänden, kleine Installationen stehen überall im Weg, werden simultan bespielt, dabei gefilmt, sodass diese Bilder zur Erzeugung von Wahrnehmungsstress auf allen Ebenen des Hauses projiziert werden können. Im Mittelpunkt: tagesaktuelle Nachrichten. Ein Synthesizer transformiert sie in Musik. Durch Dauerbrieslung per Klangdusche gelangen sie direkt ins Hirn einer Statistin. Oder werden auf einem Heimtrainer in Strom verwandelt, mit dem sie (also Zeitungen, Manuskripte der Nachrichtensprecher) gleich wieder geschreddert werden können. So wie es dem Neuigkeitenwust auch in unserem Hirn häufig ergeht, um den Dauerbeschuss erträglich zu gestalten. Sachlich werden News vorgelesen, im Rezitativ kunstvoll gestaltet, auf Techno-Beats gerappt. Rhythmisch skandierte Schlagzeilen sind Anlass für Aerobic-Gehüpfe. „Le Monde“-Artikel kommen als Chanson zu Gehör. Also irgendwie Medienkompetenz-Grundschule: Jede noch so nüchtern formulierte Tatsache wird durch die Art des Sprechens gewertet – und nicht vergessen, dass jede Nachricht eine Ware ist, von unkenntlich gemachten Interessen ausgewählt und geformt. Deswegen soll das Publikum eingreifen. An Kindergarten-Spielstationen: Bessere Welt kneten oder neue Weltbilder durch Übermalen vorhandener kreieren. Dazu klebt Zeichenpapier auf TV-Bildschirmen, Nachrichtensendungen flimmern, Pinsel, Farbe und Kunstlehrerinnen stehen bereit. Auf der Hinterbühne warten Pappkarten darauf, mit Wünschen versehen zu werden, wer oder was vergehen soll: Todesstrafe, Merkel, Kapitalismus, Elend, Tod ist dort zu lesen. Für ein Päuschen „Dream-Stream“ sind Traumtabletten erhältlich. Oder man zieht sich in eine Rangloge zurück und blickt ins leere Theater: „Ausschnitt der Wirklichkeit“ steht an der Tür. Kurzweilig das alles. Wie Zappen durchs TV-Programm. Flüchtig, ein wenig beliebig. Reize über Reize. Kein Anreiz, sich mal vertiefend auf etwas einzulassen. Auch wenn bald klar wird: Es geht nicht um Medienkritik, sondern um Wahr-Nehmung. Nachrichten sind für Stemann nur Metapher für eine fremd- und selbstkonstruierte Wirklichkeit. Ganz viel Überbau liefert dazu die „Theoriehöhle“. Dramaturg Carl Hegemann skypt mit ihm ebenbürtigen Intellektuellen und exponiert allerhand Gedanken über den Willen zur Wahrheit. Philosoph Markus Gabriel merkt an, dass Wirklichkeit nicht mehr sei als die gerade akzeptierten Fehlschlüsse. Und so ist jedes für wahr Halten grundsätzlich falsch. Weil es Wahrheit eben nicht gibt. Schon gar nicht in der „Tagesschau“. Weswegen auch Stemanns „Nachrichtentheater“ als „Wirklichkeitsmaschine“ scheitern muss. Aus den Nachrichten lässt sich keine lebenswerte Realität materialisieren. Dazu ein großes Finale! Das müde gebummelte Publikum darf doch noch ins Parkett, der Eiserne Vorhang hebt sich und mit einem Feuerwerk der Theatereffekte explodiert die „Wirklichkeitsmaschine“. Die Kommunarden singen leise weinend im Engelskostüm „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ (Mahler/Rückert) und im Mickey-Mouse-Kostüm „Dreams are my reality“ (Richard Sanderson). Dann ergeht der Aufruf: Weiterbasteln an der Wirklichkeit. Work in progress. Denken, fantasieren, ausprobieren: Theaterspielen. Demnächst auch wieder im Thalia.