Foto: Eine ägyptische Familie heute in "Tahrir Tell" am Mannheimer Schnawwl. © Christian Kleiner
Text:Manfred Jahnke, am 24. Juni 2013
Die Geschichte von „Wilhelm Tell“ als eine des arabischen Frühlings, als eine der Geschichte einer Familie in Ägypten zu erzählen, vermittelt sich in den Begriffen „Freiheit“, „Menschenwürde“ und der Frage nach der Legitimität eines „Tyrannenmordes“. Was 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo begann und in Restauration der alten Machtverhältnisse 2013 zu scheinbarer Stagnation und Resignation führt, zeigt Ad de Bont in der Geschichte von drei Geschwistern, den Abdel Basets. In „Tahrir Tell“, das zu den Schillertagen am Schnawwl Mannheim von Daniel Pfluger uraufgeführt wurde, werden die Grundfragen politischen Handelns gegen die diktatorische Macht verhandelt. Während der Jüngste, Hazem, für den friedlichen „stummen“ Protest eintritt, möchte der Älteste, Omar, die Waffe zur Hand nehmen. So zeigt sich die Familie tief zerstritten, wenn sie sich zu Beginn zum Erinnerungstag an den Tod des Vaters zusammen trifft. Mutter Jasmina und Schwester Israa, die sich später zur Internetexpertin entwickeln wird, überzeugen Omar vom friedlichen Protest. Was den Kommandanten Salama als Vertreter der geheimen Staatspolizei allerdings nicht hindert, beide Brüder einzubestellen und Omar aufzufordern, eine Orange vom Kopf seines Bruders zu schießen. Am Ende trifft sich die Familie wieder zu einem Erinnerungstreffen. Sie gedenken des Tods des Jüngsten: Hazem wurde auf dem Tahrir Platz von Kamelen zu Tode getrampelt, und wieder entsteht ein heftiger Streit, nun aber über die Frage, ob es sich lohnt, weiter zu kämpfen.
Wo Schiller zur Verdeutlichung der unterschiedlichen Positionen im Kampf um Freiheit eine Unmenge von Menschen zum Rütlischwur zusammen bringt, da verhandelt Ad de Bont in antiker Tragödienstrenge die Frage, wie der Mensch seine Freiheit und Menschenwürde erringen kann, im Rahmen einer Familie, der mit dem Kommandanten nur ein Vertreter der verhassten Tyrannenmacht gegenüber steht. Darüber hinaus stellen Videoeinspielungen Verbindungen zum Außen her. Sprachlich benutzt der niederländische Autor dabei die hohe Sprache Schillers in Rhythmus und Metrik. Vor allen Dingen aber hat er den Essay „Über das Pathetische“ gelesen, nicht nur, was das Dramaturgische betrifft, sondern auch im Bezung auf die Umsetzung der Affekte in einen erhabenen Stil. Das hat eine verfremdende Wirkung, aber auch eine auf den Sprechgestus, der immer wieder in emotionale Überwältigung umschlägt, verbunden im emphatischen Freiheitsbegriff. Kurz: Eine überzeugende Auseinandersetzung mit der Schillerschen Sprache.
Das Schnawwl–Ensemble balanciert gekonnt auf dem schmalen Grat des Pathos und entgeht den Abstürzen in eine Hohlheit. Musterhaft führt das Uwe Topmann als Kommandant und Schwager vor, aber auch David Benito Gracia als Hazem, Cédric Pintarelli als Omar, Maike Wehmeier als Israa und Monika-Margret Steger als Mutter führen klare Haltungen im Sprechen vor. Daniel Pfluger setzt dabei im kargen Raum von Flurin Borg Madsen – ein nur nach vorne hin offener weißer Kasten, auf dem Boden markieren rote Leisten ein Zimmer, vier Stühle ergänzen diesen Raum, der immer neu strukturiert werden kann – auf einen musikalischen Grundrhythmus des Sprechens. Für ein Publikum ab 14 Jahren ein sehr ungewöhnlicher, spannender Umgang.