Foto: Nächtliche Szenerie: "Atlas – Inseln der Utopie" bei den Kunstfestspielen Herrenhausen in Hannover. © Helge Krückeberg
Text:Klaus Kalchschmid, am 3. Juni 2013
Mit „Gramma – Gärten der Schrift“ gelang dem Komponisten José María Sánchez-Verdú und der Regisseurin Sabrina Hölzer bei der Münchner Biennale für neues Musiktheater 2006 ein wunderbares szenisch-musikalisches Exerzitium, bei dem das Publikum, Mönchen in der Klausur gleich, vor schön gestalteten Büchern saß, in denen es parallel zur Musik mitlesen konnte: Text, Bilder oder Noten, während die differenzierte Musik über ihren Köpfen spielte. Nun haben die beiden zu Eröffnung der diesjährigen KunstFestspiele Herrenhausen mit dem Motto „Heimat Utopie“ erneut für eine Uraufführung zusammengearbeitet. Und wieder ist bei „Atlas – Inseln der Utopie“ etwas ganz Besonderes entstanden.
Ein Bühnenbild war nicht nötig, denn die langgezogene Galerie der Herrenhäuser Gärten mit ihren seltsam irrealen Wandmalereien antiker Utopien, mit ihren gewaltigen Atlanten wie aus rotem Sandstein, mit ihren Büsten berühmter Denker, ist allein schon ein solches. Zwischen den darin aufgebauten „Inseln“, auf denen unter Leitung des Komponisten Musiker des Solistenensembles Kaleidoskop (Streichtrio, verschiedene Oboen, Flöte, Saxophon, Kontrabass, Theorbe, Harmonium) oder die fünf Sänger der Neuen Vocalsolisten Stuttgart (Sarah Maria Sun, Truike van der Poel, Martin Nagy, Guillermo Anorena, Andreas Fischer) plaziert sind, kann sich das Publikum bewegen, aber auch sitzen, stehen oder liegen. Nicht nur dieser Raum wird bespielt und besungen, auch von der Galerie, deren Flügel sich öffen können, tönt es, dann flutet rotes oder blaues Licht den Raum.
Anfangs fühlt man sich verloren zwischen den versprengten Klängen und etwas gestört von den vielen Menschen um sich herum, doch im Verlauf der 70 Minuten gewöhnt man sich an die Situation und begreift, dass es oft besser ist, nicht gerade da zu sein, wo vermeintlich das Hauptereignis stattfindet, wo gerade jemand nicht Identifizierbares von Plato, Thomas Morus, de la Cruz, Giordano Bruno oder Hölderlin singt, wo ein oder mehrere Instrumente spielen, sondern sich wie in Trance langsam durch den Raum treiben zu lassen, den Kopf mal hierhin mal dahin zu wenden und die Echos aus den verschiedensten Ecken wahrzunehmen, ihnen hinterherzuspüren und das Gehirn, die bewusste akustische Wahrnehmung auszuschalten. Dann gerät man in einen meditativen Zustand, der die Prozessionen der Musiker, das Licht, den Raum, die Klänge als etwas zugleich Unwirkliches und ganz Konkretes erlebbar macht.
Ein sogenanntes Aurophon hat Sánchez-Verdú entwicklet, das die Live-Musik filtern, vervielfältigen, mit einer Aura versehen oder wie in einem Prisma brechen kann. Es besetzt einen virtuellen Raum, der den realen und den „Resonanzraum“ auf der Galerie ergänzt. Wie jeder Hörer die Musik und das „Geschehen“ je nach Platz unterschiedlich erlebt, klingt sie auch jeden Abend anders. Eigentümlicher- und beglückenderweise nimmt ihre Dichte, ihr Beziehungsreichtum immer mehr zu. Und am Ende steht man staunend wie ein Kind da und schaut den schwarzen Luftballons hinterher, die – mit einem kleinen LED-Lämpchen versehen – einer nach dem anderen an die Decke schweben und dort einen Sternenhimmel entstehen lassen.