Foto: Der Dortmunder Sprechchor in Aktion. © Birgit Hupfeld
Text:Stefan Keim, am 3. Juni 2013
Sprechchöre haben Konjunktur an vielen Theatern, nicht nur wenn Volker Lösch inszeniert. Meistens werden Laien für spezielle Vorstellungen zusammen getrommelt. Doch in Dortmund führt der Sprechchor längst ein Eigenleben. Nun hat er sogar ein eigenes Stück heraus gebracht, „Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete“. Die Zuschauer dürfen nicht auf ihre Plätze. Denn dort sitzt der Sprechchor. Das Publikum bleibt zunächst auf der Studiobühne des Dortmunder Schauspielhauses stehen. Der Chor stellt sich vor. 79 Nasen, 158 Beine, sieben künstliche Hüftgelenke, zwei Herzschrittmacher. Die Mitglieder des Dortmunder Sprechchores stehen auf und kommen auf die Bühne. Es wird eng. Jeder von ihnen murmelt leise Glaubensbekenntnisse. Man muss die Ohren vor die Münder halten, um die Worte zu verstehen. Einer glaubt an die Liebe, eine andere daran, dass die Donau nicht blau ist, sondern grau. Dann dürfen sich die Zuschauer setzen.
Der Dortmunder Sprechchor bildet eine Einheit, einen Körper, einen Geist. Er verschmilzt zu einem Stellvertreterwesen, einem Avatar namens Margot Maria Rakete. Die Erlebnisse und Träume aller Mitwirkenden sind in dieses Wesen hinein geflossen. Jemand ist als zweijähriges Kind aus dem Fenster gefallen, jemand hatte Eltern, die Widerstand gegen die Nazis leisteten. Diese Geschichten und viele mehr erzählt der Chor an diesem Abend. Nicht nur als Sprechperformance, sondern auch in Bildern. Einmal wandern sie in einer Reihe über die Bühne und wiederholen immer die gleichen Bewegungen, Reißverschluss hochziehen, Fluse von der Schulter schnippen, wie in einer Choreographie von Pina Bausch. Dann gibt es skurrile Traumszenen, eine Operation, das Einputten auf dem Golfplatz. Der Ball liegt nur Zentimeter vor dem Loch, dennoch überlegt der Spieler minutenlang. Aus einer Kleinigkeit wird eine existentielle Aktion, was sehr komisch wirkt. Einen logischen Zusammenhang gibt es nicht. „Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete“ ist ein assoziatives Surfen durch die virtuelle Welt des Chores. Man weiß nie, was gleich passieren wird. Alles ist möglich. Aber nicht beliebig, denn die Fragmente entwickeln große Emotionalität. „Maria trägt ein kleines Kind bei sich“, erzählt der Chor rhythmisch phrasierend. „Und vergisst es. Immer und überall. Sie wickelt es extra in Alufolie und lässt es trotzdem in der Telefonzelle liegen.“
Schließlich verdichtet sich der Abend zu einer Science-Fiction-Geschichte. Margot Maria Rakete tritt auf, in Bühnennebel und Weltraumanzug. Der Chor spricht von einer „Astronautin der Liebe“, bejubelt sie wie eine Heilsbringerin – und geht im nächsten Moment auf Distanz, weil sie fremdartig aussieht. Eine goldene Rakete wird auf die Bühne gebracht, die Älteste aus dem Chor – eine 88-jährige Dame – setzt dem Weltraumgefährt die Spitze auf. Wohin die Reise geht, bleibt offen. „Eine Kollektivsimulation“ nennt der Sprechchor diesen seltsamen, enorm unterhaltsamen und berührenden Abend. Das ist längst kein Laienprojekt mehr, sondern eine außergewöhnliche Kunstform. Und ein Riesenerfolg – nicht nur für den Sprechchor sondern auch für das Regieteam Thorsten Bihegue, Christoph Jöde und Alexander Kerlin.