Foto: Daniel Goldin: "Von den Winden" am Stadttheater Gießen © Rolf K. Wegst
Text:Marieluise Jeitschko, am 22. Mai 2013
Zum Auftakt der 11. Folge des Festivals „TanzArt ostwest“ in Gießen choreographierte Daniel Goldin im Stil seines expressionistischen Ausdruckstanzes mit Mitgliedern der Tanzcompagnie Gießen von Tarek Assam und Tanzeleven aus der chinesischen Wirtschaftsmetropole Shenzhen ein neues, knapp einstündiges, dreiteiliges Stück „Von den Winden“ auf dem Gelände der heutigen Technischen Hochschule Mittelhessen. „Site specific project“ nennt sich so eine aktuelle Performance, die nicht auf einer normalen Theaterbühne aufgeführt wird, sondern sich anderen Räumlichkeiten anpasst – ein gelungenes Experiment, Daniel Goldins sensible Tanzkunst aus einer neuen Perspektive zu erleben.
Zu Beginn zieht die achtköpfige Gießener Truppe wie in einer Trauerprozession von draußen in den engen Raum der Baracke im Hinterhof eines Institutsgebäudes. Zwanzig Minuten später schreiten sie paarweise über den sonnendurchfluteten Hof zum ehemaligen Chemiegebäude aus der Gründerzeit, wälzen sich mühevoll über die breiten Stufen und Treppenabsätze durch die Etagen nach oben. Eine Stuhlreihe grenzt Spielfläche und Zuschauer(steh)raum ab. Hier wiederholen die sieben Chinesen der anderen Gruppe ein sehr ähnliches, aber nicht völlig identisches Ritual des Tastens und Voranstrebens. Nach und nach finden sich die vier Paare aus dem Treppenhaus ein. Gegenläufig tanzen sie mit den anderen, mischen sich schließlich unter sie. Wunderbare Diagonalen ergeben sich.
Diesem Festival-Auftakt folgte eine Vielzahl von Beispielen unterschiedlichster choreographischer „Handschriften“ auf deutschen Bühnen und aus der freien Szene. Eins hatten alle Gastauftritte und die beiden Aufführungen der Tanzcompagnie Gießen mit Tarek Assams „Hemingways Party“ und „Siddhartha“ gemein: die technisch hohe Qualität der typisch international und interkulturell bunt gemischten Truppen und solistischen Formationen. Nur ein bisschen weniger „Bodenturnen“ hätte man sich gewünscht.
Höhepunkt des neuntägigen Festivals war eine Gala, an der sich ein Dutzend deutscher Compagnien beteiligte – ein bemerkenswerter Kraftakt von Tarek Assam, zumal das Festival kein Extrabudget hat, also auf Sponsoren und Gratismitarbeit der Gäste angewiesen ist. Größten Eindruck hinterließen die drei Tänzer und eine Tänzerin aus Ulm mit dem technisch außerordentlich anspruchsvollen „Palimpsest – Tanzspuren übermalt“ von Ballettchef Roberto Scafati und die dance company nanine linning, jetzt Heidelberg, mit der typisch fantasievollen Kreation „Zero“ der Holländerin. Die Lacher auf seiner Seite hatte das Trio vom Staatstheater am Gärtnerplatz mit der virtuosen Slapstick-Nummer „Ambaradan“ des neuen Ballettchefs Karl Alfred Schreiner auf bayerische Militärmusik.
Ein besonderes Glanzlicht setzte Chinas Vorzeige-Truppe modernen Tanzes, Beijing Dance/LDTX, mit „Sorrowful Song“ auf Ausschnitte aus Henryk Góreckis gleichnamige Symphonie – einer Gruppenchoreographie über Gewalt, Folter und Tränen bis zur wütenden, mutigen Auflehnung. Die Tanzsprache orientierte sich deutlich am kraftvollen deutschen Ausdruckstanz, speziell an Kurt Jooss‘ Antikriegsballett „Der Grüne Tisch“ mit weit gespreizten Fingern, Fäusten und archaischen Körperbewegungen. Das Thema sei allgemeingültig, sagte uns Direktor Willy Tsao. Ein Bezug zur Situation oder Geschichte seines Landes sei keineswegs beabsichtigt. Künstler könnten heutzutage unabhängig und unbehelligt arbeiten. Finanziert wurde die Reise der Truppe von der chinesischen Regierung. Die Abkürzung im Namen der Truppe bedeutet auf Deutsch „Donner grollt unter dem Himmel“.