Text:Dieter Stoll, am 10. Dezember 2012
Aus dem Bühnenhimmel schwebt ein weißer Luftballon und Mephisto seufzt hämisch ”O Gott”. Das erste Wort dieser verblüffend redseligen Tanztheater-Uraufführung, mit der Nürnbergs kürzlich für vier weitere Spielzeiten verlängerter Ballettdirektor Goyo Montero seine programmatische Mythen-Sammlung (nach Romeo und Julia, Carmen und Don Juan) ausbaut, mag zwar den obersten Schöpfer betreffen, gehört aber dem weitaus deutlicher erkennbaren Widerspruchs-Geist. Nicht nur das, denn er hat sogar die absolute Sprachgewalt, die lediglich kurzfristig in Margaretes Stimme ein winziges Echo auf gleicher akustischer Höhe findet. Weder der gestikulierende Doktor Faust, noch sein stotternder, um Ausdruck ringender Untermieter, der hier wirklich unter dem Pult des Goethe-Prototyps wie ein Embryo ausschlüpfende Bulgakow-“Meister”, sind mehr als verstummte Opfer des großen Manipulators. Dass in dieser Aufführung der zynische Spielleiter der einzige Nicht-Tänzer ist, seine abgründigen Gedanken also nur bedingt vom Kopf auf die Beine stellen kann, sollte beim Ballett eigentlich zum Lastenausgleich führen. Doch da überrascht der Choreograph mit unerwarteten Wendungen.
Seine Annäherung an das Thema ist für einen Repräsentanten seiner Sparte mutig, eher schon tollkühn vom biblischen “Am Anfang war das Wort” gelenkt, die Entscheidung für die Besetzung der alles beherrschenden Figur mit der Schauspielerin Julia Bartolome (ein unkonventionelles Talent vom Schauspielhaus nebenan, das in der Stamm-Sparte auch schon als “Richard III.” unterwegs war) verschiebt bei der Definierung von “Tanz-Theater” den Akzent energisch nach hinten. Montero, der spanische Ballettmeister, lässt seiner Sehnsucht nach einer eigenartigen Kombination von Sprachbeherrschung, die er nahezu defensiv bewundert, und offener Darstellungs-Form freien Lauf – auf Kosten der anderen Elemente. Nicht nur dem Tanz, auch dem großen Orchester der Staatsphilharmonie, das über weite Strecken der zweieinhalbstündigen Vorstellung im Graben wie in einem abgedunkelten Wartezimmer auf Einsätze lauert, sind dienende Funktionen zugewiesen.
Goyo Montero hat einen Cocktail aus Lesefrüchten gemixt, die den Zuschauer in 18 Stationen vorrangig als bildungsbürgerlichen Spurensucher herausfordern. Wer ist wer und kommt woher? Das große, übergreifende Thema bleibt die Manipulation, denn so wie Mephisto den Faust zur Marionette macht, dressierte dieser grüblerische Kopf zuvor in vergleichbarer Gnadenlosigkeit ein Heer von gesichtslosen Assistenten zu Duplikaten des eigenen Wesens. Das Mitgefühl mit diesem Schmerzensmann, der in pathetischer Körperbewegung das eigene Leiden beklagt, hält sich in Grenzen. Carlos Lázaros Ur-Faust hat weniger Profil als der “Meister”, den Saul Vega mit defekter Sprache und verrenkter Körperlichkeit in die Szene purzeln lässt. Mit der Margarete von Marina Miguélez (Leih-Stimme: Anna Keil) ergeben sich sparsam platzierte, im Ansatz wunderschöne Pas de deux-Entwürfe, sehnsüchtig und hingebungsvoll auf höchstem technischen Standard, die zumeist in einer Art Gebärdensprache versickern. Ganz so, als ob dem Choreographen das eigene Talent nicht ganz geheuer sei.
Ein “Zwischenspiel” versucht die ironische Brechung im düsteren Experiment. Nach der Pause, wo Montero absolut zutreffend die gegensätzlichsten Debatten über seinen schöpferischen Kraftakt vermutete, schäkert Mephisto als Entertainer eine Casting-Show herbei. “Wie sollen wir weitermachen?”, fragt er ins Publikum und verspricht eine “basisdemokratische” Entscheidung über die Protagonisten des zweiten Teils. Gruselgestalten der Weltgeschichte werden zur Auswahl vorgeführt, aber die lärmende Volksmasse auf der Bühne besteht auf einem blassen Mädchen, das in der Regel ungeleitet nach Hause geht. Also, weiter mit Gretchen.
Die Musik von Lera Auerbach, der zuletzt für eine Saison in Dresden residierenden Russin in USA, war offensichtlich für einen kürzeren Abend gedacht. Sie setzt starke Akzente als Teil des Bühnenbilds (von Verena Hemmerlein und Montero), wenn die Komponistin selbst am Flügel in Begleitung von Geige und Cello die Theatralik ganz direkt auflädt. Und sie fasziniert im Einsatz des großen Orchesters, das unter der Leitung von Philipp Pointner leuchtkräftige Spuren tonaler Signale zwischen Historie und Gegenwart flimmern lässt. Zum großen Tableau kann das nicht zusammenwachsen, die arg konventionell ausgestellte und in ihrem Trompetenton eben gar nicht hinterfragte Sprache trennt den musikalischen Eindruck in lauter Einzelteile.
Das gilt auch für das Tanz-Ensemble, das in wenigen Einsätzen seine Klasse zeigen kann, aber einfach programmatisch unterfordert wird und im angestrengten Denk-Spiel zur hochqualifizierten Randerscheinung wegrutscht. Der Spanier Montero, der sich noch zwei Wochen vor der Premiere im laufenden Probenprozess die Produktion auch als Einakter vorstellen konnte, ist gebannt von dem Wort, das ihm fehlt, und lässt Julia Bartolome nach ungebremst weitschweifigen Rezitationen im bombastischen Final-Bild “Vergebung und ewiger Hort” als Schwarze Witwe mit ausgefahrenen Krallen in ein undurchschaubares Jenseits schreiten, das Opfer immer genießerisch dominierend an der Hand. Mephisto, mir graut vor dir. Dass Goyo Montero nach den Erfolgen der letzten Jahre auf den Stand des Nürnberger Publikumslieblings bauen kann, zeigte die Reaktion bei der Premiere. Es gab viel raunende Irritation übers verkopfte Tanztheater in den Pausengesprächen und wieder nach der Vorstellung – aber bei der bejubelten Verbeugung keinen einzigen Buh-Ruf.