Foto: "Alle im Wunderland" am Theater Oberhausen. © Birgit Hupfeld
Text:Nicolas Garz, am 18. Februar 2013
Die Pforte zur Phantasiewelt war ein Kaninchenbau, und darin wohnte ein gestresstes Kaninchen, das ständig „Keine Zeit, Keine Zeit!“ rief, angetrieben vom Ticken seiner Taschenuhr. Wenn man das heute liest in Lewis Carrols „Alice im Wunderland“, denkt man nur: Dem Tier muss geholfen werden, diesem Opfer der Beschleunigung, diesem Burnout-Karnickel. Und da diese Geschichte eben nicht nur Disney-Märchen, sondern auch immer Alptraum war, inszeniert Schorsch Kamerun, Sänger der „Goldenen Zitronen“, seine Carrol-Adaption „Alle im Wunderland“ gegenwartskritisch. Das Wunderland als Aussteigerfarm, am Theater Oberhausen, mit mehr als fünfzig Bürgern der Stadt. Deren Ängste und Wünsche wurden in die Texte eingeflochten, dazu Musik komponiert, die nach Kurt Weil und Kraftwerk, aber vor allem nach diesem in positivster Weise nervtötenden Zitronen-Sound klingt.
Und da nun die ersten schrillen Töne durch den Raum pfeifen, taucht die Alice-Figur des Abends in ein Suchbild-Wunderland mit bunten Vulkanen ein. Brandy (Manja Kuhl) heißt sie, und genauso fühlt sie sich: Ausgebrannt, enttäuscht von all den unerfüllten Hoffnungen, verängstigt von einer ungewissen Zukunft. Märchenhaftes erlebt sie jedoch auch hier wenig. Vielmehr wirkt dieses sogenannte Bürgertheater wie ein Einführungsseminar in kritischer Soziologie. Flexibilität, der Druck eines befristeten Arbeitsvertrags, die Angst vor dem Abstieg, all diese Schlagworte werden in den Theatersaal geworfen, und man fragt sich dabei, warum den vielen Nicht-Schauspielern, die da herumwuseln, stricken und Waffeln backen, kein Mikro in die Hand gedrückt wurde. Denn so bleiben die Begriffe in der Luft stehen, werden nicht zu atmenden Geschichten, und man kann ihnen beim Verpuffen zusehen.
Was nicht bedeutet, dass es keine Widersprüche gäbe in dieser Traumwelt. Kindisch und frei und kreativ darf man dort endlich wieder sein. Aber man muss es eben auch. Der Zeitpresser (diabolisch und aalglatt: Sergei Lubic) macht daraus keinen Hehl: Kein Wunderland ohne Wunder, und auch die müssen produziert werden. Ab da entwickelt sich Brandy zu einer Bewerberin im Vorstellungsgespräch, das Traumland wird zur Traumfabrik, und die bunten Vulkane scheinen auch schon längst gentrifiziert. Subtiler Zwang weht durch die eben noch gemütliche Waffelluft, Ausstieg zwecklos. Ein feiner, gut in Szene gesetzter Bruch, aber was ist daran noch ein Bürgerkonzert?
Nach langem Warten die ersehnte Antwort: Ein Oberhausener Frührentner tritt vor eine Green-Box, auf einer Videoleinwand erkennt man das Labor, in dem er Jahrzehnte lang gearbeitet hat. Sein größter Wunsch: Noch einmal zurück in den früheren Job. Und als er dann auf dem Bildschirm seiner Kollegin in Loriot-Manier herrlich trockene Anweisungen erteilt, dann ist das so witzig, zugleich aber auch ein bisschen zum Heulen, da er ja nur in die Leere einer grünen Wand spricht. Da streift die Inszenierung für einige wunderbare Augenblicke die große zeitkritische Gebärde ab, an der sie zuvor so schwer zu kauen hatte. Und bleibt trotzdem ein widersprüchlicher Traum: Denn in dieser „Wünsch dir was“-Show werden Sehnsüchte zwar erfüllt, aber nur noch virtuell, und auch nur noch für ganz kurze Zeit.