Text:Joachim Lange, am 5. Dezember 2012
Verdis „La traviata“ gibt es oft auf der Opernbühne. So „schön“ stirbt es sich ja auch selten. Geradezu zum Mitsummen. Oder zum Dazwischenklatschen, wenn die Leidenschaften zwischen Violetta und Alfredo hochkochen. Oder, wenn dessen Vater auf fatale Weise mit seinem Appell an die Edelkurtisane, doch vom Sohnemann abzulassen, damit der Ruf der Familie keinen Schaden nehme, Erfolg hat.
Diese Art von Wunschkonzert-Rezeption ist Andrea Breth nach eigenen Worten ein Greul. Als geliebt-gefürchtete Frontfrau eines textpräzisen Theaters, jenseits (Peter-)steinerner Langeweile nimmt sie bei ihren Ausflügen ins Musiktheater die Stücke und ihren Geist ernst. Todernst. Das führte im Falle der beiden Alban Berg-Opern „Wozzeck“ und „Lulu“ an der Berliner Lindenoper im Schillertheater ziemlich dicht an den sprichwörtlichen Abgrund Mensch. Und wurde in den dunklen Fantasieräumen zu einer Herausforderung, der sich manch einer nicht stellen mochte. Auch ihrer „Katja Kabanowa“ hatte sie vor zwei Jahren hier in Brüssels La-Monnaie-Oper ein ziemlich graues postkatastrophisches böhmisches Dorf als Ort einer surrealen Alptraumstudie innerer Zerrissenheit verordnet.
Dagegen ist das, was zwischen dem abgrundtief traurigen, dunkelgrauen Anfangs- und Schlussbild von Martin Zehetgrubers Bühne jetzt bei ihrer „Traviata“ passiert, auf den ersten Blick hell und clean. Mit der erschlagenden Containerwand, aus der zum Vorspiel bei plätscherndem Nieselregen frisch „importierte“ junge Frauen „entladen“ werden, gibt Breth die Richtung vor. Vor dieser Containerwand endet dann auch Violetta. Unter einer Plastikplane. Geradezu Lulu-brutal. Mit diesem Rahmen um die Geschichte verbittet sich die Regisseurin gebieterisch (und mit Erfolg) jenes beschwingte innere Mitpfeifen und den Szenenbeifall, der das, was da eigentlich passiert, ignorieren würde.
Zwischen den beiden lähmend düsteren Bildern aber leuchtet sie in einer sparsam möblierten Club-Atmosphäre für skrupellose Parvenues von heute (Kostüme: Moidele Bickel) mit grellem Licht hinter die gutbürgerliche Fassade. Und findet dort nicht weibliche Salon-Schönheit, sondern osteuropäisches „Frischfleisch“. Die jungen Frauen werden in einem Dutzend Schaufenstern der Lust im Party-Hintergrund ausgestellt. Dann lassen die Männer in den Bankeranzügen im wörtlichen und übertragenen Sinne die Hosen runter und diese Puppen tanzen. Was freilich nur eine euphemistische Untertreibung für das ist, was da so an Sado-Maso Spielchen, inklusive Kindern, Drogen und Gewalt getrieben wird. Ohne wuselnden Choraktionismus (der singt sowie im Graben), dafür in präzise durchchoreographierten Charakterstudien sämtlicher Nebenrollen. Wobei die grandiose Carole Wilson als Annina schon keine Nebenrolle mehr ist, sondern das Abbild einer altgewordenen, ausgebrannten Violetta. Da ist dann der Blowjob vorm Container der Job zum Überleben am Ende. Tiefer geht’s kaum. Bei Breth ist jede Beiläufigkeit, jedes Wegsehen, jedes versehentliche Rempeln eine mit Bedacht gewählte Zutat für ein beklemmendes Porträt von Verkommenheit.
Mittendrin eine Violetta, die so viel gar nicht macht. Die jenseits eines dramatisch forcierten Leidensfurors betörend lyrisch leuchtende Simona Šaturová wirkt geradezu wie ein in sich ruhender Pol. Eine Frau, die trotz der Erniedrigung, die sie erfahren hat, ihre Würde nicht verliert, aus Erfahrung gefasst ist und in sich ruht. Und doch offen für die Leidenschaft bleibt, die ihr der smarte, deutlich jüngere Alfredo Sébastien Guèze mit seinem Großer-Junge-Charme und Provinzburschen-Sexappeal entgegenbringt. Für das schauspielerische Talent des Strahlemanns ist eine Breth-Inszenierung der Glücksfall. Das betrifft auch den Dritten im Bunde. Bei Andrea Breth hat das musikalische und emotionale Gewicht der ersten Begegnung von Giorgio Germonts mit Violetta Konsequenzen. Sie macht aus seiner offenbar erwiderten tiefe Liebe zu Violetta eine emotionale Hauptsache. Scott Hendricks ist ohne jede väterliche Distanz-Attitüde der eigentliche Partner auf Augenhöhe für Violetta und beglaubigt bis in jeden Ton und jede Geste sein Leiden an der eigenen, in Konventionen gefangenen Engstirnigkeit.
So deutlich ausgeleuchtet und nah erlebt man die Geschichte vom Leben, Lieben, Leiden und Sterben der Violetta Valery selten. Man hört es auch selten so aufgeraut und differenziert wie mit Adam Fischer und dem La-Monnaie-Orchester. Mit erschreckend brutalen Paukenschlägen am Ende bringt Fischer akustisch auf den Punkt, was man auf der Bühne sieht. Graben und Szene sind sich und dem, worum es Verdi ging, auf so verblüffende Weise nah, dass es beim sonst so wohlwollenden Brüsseler Publikum diesmal auch vergleichsweise viele Buhs gab. Andrea Breth nahm das lächelnd auf sich. Das Wunschkonzert zum Hit-Bejubeln ist eh nicht ihr Ressort.